Wer oder was bestimmt eigentlich, wer als „normal“ und wer als „verrückt“ gilt? Auf dieser Frage baut das Lustspiel Pension Schöller auf; 1890 erdacht von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs, 2017 umgesetzt von Staatstheater Darmstadt und Hessischer Spielgemeinschaft.
Schwarz und Weiß sind Kulisse und Kostüme in der Inszenierung von Judith Kunert – ein scharfer Kontrast. Gestreift, kariert, gepunktet, aber immer schwarz-weiß. Dabei ist die Lehre aus diesem Stück das Gegenteil, dass nämlich die Unterscheidung in schwarz und weiß (oder verrückt und normal) häufig nicht so eindeutig möglich ist und es vielmehr viele Graustufen gibt. Analog dazu verschwimmen auch die Grenzen zwischen den Farben, je länger man die Kulisse betrachtet.
Die Hauptfigur Philipp Klapproth (ausdrucksstarkes Mienenspiel: Heinz Neumann), ein älterer Herr vom Land, möchte einmal im Leben eine echte Irrenanstalt von innen sehen – um danach am Stammtisch mit dem Erlebten prahlen zu können. Sein Neffe Alfred Klapproth (Ralf Jost) hat dazu zwar keinen Zugang, aber einen originellen Einfall, um dem Onkel diesen Wunsch scheinbar zu erfüllen. Kurzerhand deklariert er die Pension Schöller zu einer solchen Irrenanstalt und deren zahlende Gäste zu Verrückten. Er erklärt dem Onkel, die irren Bewohner empfänden sich als völlig gesunde Leute und wüssten nicht, dass sie tatsächlich in einer Nervenheilanstalt untergebracht seien. Zu ihrem Wohl müsse man sie unbedingt in diesem Glauben lassen.
Im zweiten Akt stattet der Onkel also der Pension Schöller einen Besuch ab und amüsiert sich königlich über die vermeintlich Irren. So labt sich auch das Theaterpublikum an den Macken und Marotten der Pensionsgäste. Diese sind durchaus schräge Typen, dennoch bestimmt die Perspektive die Beurteilung ihres Geisteszustandes. So liegt es im Auge des Betrachters, ob Eugen Rümpel (meisterhaft dargestellt von Thomas Hechler) verrückt sein muss, dass er mit aller Macht ans Theater will, obwohl er kein „l“ sprechen kann, oder einfach einer Leidenschaft nachgeht. Ist es weiter nicht auch menschlich nachvollziehbar, dass der Major Gröber – Uniform, Hacken zusammen und Befehlston (zackig: Helmut Schleeger) – militärische und private Fehler aus der Vergangenheit schönt oder verdrängt, um sie dadurch erträglicher werden zu lassen? Oder macht ihn dieser Realitätsverlust zum Verrückten? Ist Fritz Bernhardy ein vielgereister Weltenbummler, der tristen Enge des Alltags entflohen, oder ein kalauernder Selbstdarsteller mit Cowboyhut, Fuchsschwanz und goldenen Kleiner-Muck-Schuhen (großartig porträtiert durch Ralf Hellriegel)? Der Grat zwischen „normal“ und „verrückt“ ist in der Tat schmal. So urteilt der fanatische Weltreisende selbst über die ebenfalls die Pension bewohnende exzentrische Schriftstellerin Josephine Zillertal, sie habe „e‘ formidable Duppe, die Dame“.
Während sich der alte Klapproth als scheinbar einzig „Normaler“ zunächst überlegen fühlt und die „Verriggte“ schamlos auslacht, wendet sich das Blatt im dritten Akt. Dass er sich auf Kosten der Kranken amüsieren wollte, muss er nun büßen. Die Bewohner der Pension Schöller dringen in seine Welt ein und kommen ihm dort so nah, dass er sich ernsthaft bedroht fühlt. Da es sich um ein Lustspiel und nicht um eine Tragödie handelt, bleibt es dennoch lustig. Nun ist Onkel Klapproth selbst Zielscheibe des Spotts (des Publikums).
Die Darsteller gehören allesamt der Hessischen Spielgemeinschaft an, die 2015 ihr neunzigjähriges Bestehen feierte. Dem hessischen Dialekt der Darsteller allein verdankt das Stück etliche herzhafte Lacher. Einige Elemente der Biografien ihrer Figuren sind dem ursprünglichen Stück entnommen, andere erst während der Proben durch die Schauspieler selbst ersonnen. Dadurch erhält das Stück seinen engen Bezug zu Darmstadt und der Region: ein zusätzliches „Schnuggelsche“ für das lokale Publikum.
Dieses Lustspiel sei jenen Theatergästen wärmstens empfohlen, die dem Hessischen zugetan sind; die leicht, aber gut unterhalten werden und gerne (durchaus auch lauthals) lachen möchten.
Anna V. Hinrichsen
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