Im Musikbetrieb gibt es immer wieder einmal Sternstunden, bei denen alles passt: Werk, Hintergrund, Interpret und Aussage. Beim Rheingau-Musik-Festival, übrigens dem dreißigsten, bereitete der junge Pianist Igor Levit dem Publikum solch einen Abend.
Für dieses Konzert hatte sich der diesjährige „Artist in Residence“ die 24 Präludien und Fugen von Dmitrij Schostakowitsch ausgesucht. Eine solche Sammlung hat seit Johann Sebastian Bach einen besonderen Stellenwert, weil sie den jeweiligen Stand der Musik auf den Punkt bringt und damit in gewisser Weise eine Bestandsaufnahme darstellt. Bei Bachs „Wohltemperierte[m] Klavier“ war (und ist) das jedenfalls der Fall, und an ihm müssen sich alle Verfasser eines solchen Ganges durch die Tonarten messen.
Bei Bach waren die beiden Bände mit Präludien und Fugen als Anleitung für seine Schüler gedacht. Die eigene Lebenssituation und die Weltsicht des Komponisten spielten bei der Komposition wohl eine geringere Rolle, auch wenn sich das Werk in der Rezeption zu einem musikalischen Maßstab mit Ikonencharakter entwickelte. Bei Schostakowitsch lagen jedoch ganz andere Voraussetzungen vor. Er lebte in einem autoritären, ja despotischen System, das den Künstlern vorschrieb, wie sozialistische Kunst auszusehen habe. Stalin selbst bezeichnete Schostakowitschs Musik einmal als „Chaos“, und er musste bis zu Stalins Tod stets damit rechnen, in Ungnade zu fallen, verhaftet und verbannt oder gar hingerichtet zu werden. Die 24 Präludien und Fugen entstanden 1950/51 anlässlich der Feiern zu Johann Sebastian Bachs 200. Todestag und lassen sich wegen der äußeren Umstände im Sinne eines musikalischen Tagebuchs als persönliche Auseinandersetzung mit der Welt verstehen. Der auch redegewandte Igor Levit nannte diese Sammlung in seiner kurzen Ansprache vor dem Konzert (übrigens leider eine Seltenheit unter Musikern) eine „Selbstentblößung“ des Komponisten, der sich in jedem einzelnen dieser Stücke mit seiner Situation, der Weltlage und den seelisch-geistigen Konsequenzen aufs Privateste auseinandergesetzt habe. Da Präludien und Fugen keinen programmatischen Hintergrund kennen und nur dem strengen Gesetz der Tonarten und der Kontrapunktik unterliegen, kann man hier Zweifel, Aufbegehren, Angst und Resignation sowie Hoffnung und Sehnsüchte einbringen, ohne dass diese Aussagen sofort zu erkennen sind.
Während sich Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ pro Band pianistisch in zwei Stunden einschließlich Pause bewältigen lässt, benötigt Schostakowitschs Version bereits eine Netto-Spielzeit von 160 Minuten. Mit einer Pause erstreckt sich eine vollständige Interpretation leicht über drei Stunden. Dies erfordert vor allem vom Pianisten ein ungewöhnliches Maß an Konzentration und Kondition, denn es geht bei diesen Präludien und Fugen nicht um Gebrauchsmusik für Schüler, sondern um existenzielle menschliche Fragen, die in dieser Musikform versteckt und verdichtet sind. Igor Levit setzte diese interpretatorische Marke auch in seinen einleitenden Worten, in denen er von einem intensiven Zwiegespräch zwischen Komponist, Interpret und Publikum sprach und das Publikum auf einen so anspruchsvollen wie herausfordernden Abend einstimmte.
Diese Worte bestätigte er von den ersten Takten des ersten Präludiums in C-Dur, das – wie auch die zugehörige Fuge – noch getragen und schlicht daherkommt. Doch bereits das parallele Paar in a-Moll ist lebendig mit schnellen Läufen im Präludium und markanten Figuren in der Fuge. Schostakowitsch hat seine Folge anders angeordnet als Bach. Während jener chromatisch voranschreitet und zu jedem Halbtonschritt jeweils die Dur- und Moll-Versionen von Präludium und Fuge aneinander reiht (C-Dur, c-Moll, Cis-Dur, cis-Moll,….), ordnet Schostakowitsch die Stücke nach aufsteigenden Tonarten an (C-Dur, a-Moll, G-Dur, e-Moll,…). Dabei legt er die ersten sechs Tonarten als Kreuztonarten an, während die zweite Hälfte eine absteigende Folge von B-Tonarten darstellt, die bei F-Dur bzw. d-Moll endet. Seltsamerweise beginnt er jedoch den zweiten Teil mit Fis-Dur statt Ges-Dur, geht dann jedoch bereits mit der ersten Moll-Tonart (es-Moll) zu den B-Tonarten über.
Schostakowitschs Präludien und Fugen variieren auch in der Länge wesentlich stärker als bei Bach, und einzelne Fugen, etwa die achte in fis-Moll, können die Größenordnung mittlerer Sonaten annehmen. Sie verlieren dann den Charakter des „moment musical“ und geraten zu eigenständigen, den Gesamteindruck prägenden Musikstücken. Geradezu monumental ist die Vielfalt der Stimmungen und der emotionalen Ausdruckskraft der Präludien und Fugen. So kommt das Präludium in G-Dur gewaltig daher und trägt Züge der russischen Volksmusik. Dagegen wirkt das Pendant in e-Moll introvertiert und geradezu düster. Das Präludium in D-Dur zeigt tänzerische Eigenschaften, und die dazugehörige Fuge gleicht sich dem in weit ausholenden Figuren an. Unterirdisch und unheimlich wirkt die Variante in h-Moll, während bei A-Dur eine leichthändige, fast liebliche Grundstimmung vorherrscht. In fis-Moll sieht man kleine Puppen in Trippelschritten laufen, und die ersten Töne des Fugenthemas klingen wie „Happy Birthday“. Überhaupt hört man des Öfteren Zitate bekannter Themen aus der Musikgeschichte, wobei diese Assoziationen durchaus zufällig sein können und nicht beabsichtigt sein müssen. Die Kunst solcher Anspielungen besteht ja gerade darin, sie offen zu lassen und nicht plakativ in den Vordergrund zu schieben, denn unmissverständliche Zitate tragen stets einen Hauch von Plagiat und „fremden Federn“. Abgesehen von direkten Motiv-Zitaten wandelt Schostakowitsch in diesen Präludien und Fugen auch durch die Zeiten und Stile und erweist seinen Vorgängern dadurch seine Reverenz. Da klingen dann die Fugen in f-Moll, Es-Dur oder g-Moll wie Bach, während das Präludium in Fis-Dur in seiner Liedhaftigkeit an Schubert erinnert. Auch Schumann scheint bisweilen durchzuschimmern, und das letzte Präludium in d-Moll weckt Beethoven-Assoziationen – nicht nur wegen der Tonart im letzten Werk. Von anderen Komponisten, deren Werke der Rezensent nicht so gut kennt, ganz zu schweigen. Die letzte Fuge in d-Moll steigert sich nach langsamem, introvertiertem Beginn zu einem geradezu apotheotischen Finale, dass ähnlich wie Beethovens „Ode an die Freude“ noch einmal ein musikalisches „Dennoch“ in die Welt hinaus schleudert.
Jedes dieser unterschiedlich langen Stücke bringt eine eigene emotionale Saite zum Klingen, mal eine depressive, dann eine verzweifelte, eine introvertierte, eine aufbegehrende oder eine zweifelnde. Man kann an dieser Sammlung die emotionale Achterbahnfahrt des Komponisten während der bleiernen Stalin-Zeit en detail nachvollziehen und erhält einen tief gehenden Eindruck eines Menschen in existenziellen Nöten. Zum Glück für Schostakowitsch waren die meisten stalinistischen Zensoren keine sensiblen Kunst- oder gar Musikkenner, und so geriet ihm diese Komposition nicht zur persönlichen Katastrophe. Doch passte sie auch nicht in das verordnete optimistische sozialistische Weltbild, was ihrer Akzeptanz Grenzen setzte.
Heute sind die Rezeptionsvoraussetzungen zumindest in Europa jedoch wesentlich günstiger, so dass eine hohe Resonanz für diese Musik gegeben ist. Allerdings geht es dabei nicht um den Genuss „schöner“ Musik sondern um die Aufnahme und Verarbeitung aller emotional-existenzieller Hilferufe, die in diesen Präludien und Fugen verschlüsselt sind. Für das Publikum bedeutete dieser Abend daher drei Stunden hoher Konzentration und – zumindest geistig – aktiver Teilnahme. Doch viel stärker betraf dies natürlich den Interpreten. Abgesehen von der fast unglaublichen physischen Leistung an Kraft und Konzentration, die Igor Levit abgefordert wurde, stand die Interpretation im Vordergrund, die den Interpreten auch emotional bis an seine Grenzen fordert. Igor Levit spielte Schostakowitschs Präludien und Fugen nicht vor, er lebte sie förmlich mit seinem ganzen Körper. Bei witzigen Passagen lachte oder schmunzelte er, und bei den verzweifelten oder düsteren Teilen versammelte er sich derart, dass man die Anspannung seines ganzen Wesens buchstäblich physisch spürte. Bei einem Pianisten wie Igor Levit die technischen Fähigkeiten hervorzuheben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Bei Ausnahmekünstlern wie ihm kann man sich getrost auf die Interpretation und die Identifikation mit dem künstlerischen Kern des interpretierten Werkes beschränken. Hier leistete Levit nicht nur Einzigartiges, indem er ein fast vergessenes Werk in das Bewusstsein des Publikums holte, sondern vor allem, dass er dessen vielgestaltige und tief gehende Aussage buchstäblich zum Leben entdeckte und untrennbar mit seiner Person verband. Mit zunehmender Spieldauer schien Igor Levi zu altern; dies lag aber nicht an einem plötzlichen biologischen Effekt, sondern an seiner inneren Anteilnahme an den seelischen Ausnahmezuständen eines großen Künstlers, die buchstäblich dessen Lebenserfahrung in seine Gesichtszüge einschrieben. Als er nach der letzten Fuge erschöpft den begeisterten Beifall des ebenfalls erschöpften Publikums entgegennahm, machte er immer noch einen leicht geistesabwesenden Eindruck. Derart intensiv hatte er sich mit Schostakowitschs Musik identifiziert und damit dessen Präludien und Fugen zu einem Jahrhundertwerk erhoben. Kaum zu glauben, dass Levit nach dieser künstlerischen Parforce-Tour bereits an den beiden Folgetagen in Österreich mit Kammermusik auftreten würde.
Man wird von Igor Levit in diesem Sommer im Rheingau sicher noch einige bemerkenswerte musikalische Taten erwarten dürfen.
Frank Raudszus
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