Mit einigem Recht kann man sowohl Richard Wagner als auch Hector Berlioz als Phantasten bezeichnen. Beide kamen Anfang des 19. Jahrhunderts zur Welt und sogen die romantische Grundstimmung ihrer Zeit geradezu wie Schwämme auf. Wagner entwickelte daraus ein künstlerisches Omnipotenzstreben, das dem Streben der Romantik nach Entgrenzung nicht nur entsprach, sondern es ins Unendliche auszudehnen trachtete. Berlioz wiederum setzte das innere Streben nach Liebe, Leidenschaft und Erfüllung mit einer Konsequenz in Musik um, die wiederum an Richard Wagner erinnert. Das sich die Zeitgenossen kannten, liegt nahe, dass sie sich zwar schätzten aber nicht unbedingt mochten, angesichts der egozentrischen Charaktere – vor allem Wagner! – ebenfalls.
So bot es sich für die Programmverantwortlichen des Rheingau Musik Festival an, diese beiden Musiker im Eröffnungskonzert zu vereinen, auch wenn keiner von ihnen in diesem Jahr ein wichtiges Jubiläum vorzuweisen hat. Das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada, sozusagen das „Haus-Orchester“ des Rheingau-Musik-Festivals, präsentierte die Werke der beiden Komponisten in der akustisch nicht ganz unproblematischen Basilika des Klosters Eberbach.
Wagner stand am Beginn des Programms mit der Ouvertüre zu „Lohengrin“ sowie den Vorspielen der Opern „Rienzi“ und „Der Fliegende Holländer“. Andrés Orozco-Estrada hatte diese Werke jedoch nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung angeordnet, sondern den „Lohengrin“ an den Anfang gestellt. Aus den letzten Klängen dieser Ouvertüre entwickelte sich geradezu organisch das Vorspiel zu „Rienzi“, so dass man das Ganze nach dem Höreindruck für ein zusammenhängendes Werk halten konnte. Der intensive, getragene Beginn der Lohengrin-Ouvertüre eignet sich als Einleitung eines Programms besser als die stürmischen Pendants der beiden anderen romantischen Opern und verleiht diesen wiederum die Grundlage ihrer Wirkung. Bei einer chronologischen Anordnung wäre sie gegen diese beiden eher untergegangen. Die lang gezogenen Bögen der Violinen bauen eine enorme Spannung auf, erst später kommen die Bläser und die tiefen Streicher hinzu und verleihen der Musik zunehmend Fülle und sogar eine gewisse Dramatik, ehe sie ausdünnt zu sehr schlanken Violinenklängen und schließlich hauchzart verklingt. Die Ouvertüre zu „Rienzi“ schließt klanglich hier ideal an, erhebt sie sich sich doch langsam aus leisesten Klängen zu einem Sturm der Emotionen empor. Dem Orchester gelang der Übergang zwischen diesen beiden Werken – immerhin ein Wechsel von g-Moll zu D-Dur – auf bemerkenswerte Weise, und es entwickelte sich aus dieser Verbindung fast so etwas wie ein eigenes sinfonisches Werk.
Die Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ servierte Orozco-Estrada als eigenes, abgesetztes Werk, nachdem er und das Orchester sich für die erste Darbietung den verdienten Beifall abgeholt hatten. Diese Ouvertüre kann – und muss – allein schon wegen ihres Bekanntheitsgrades und der kompakten Form alleine stehen. An die Lohengrin-Ouvertüre lässt sie sich nicht anbinden, und als Anhängsel zu „Rienzi“ eignet sie sich auch nicht. Hier ließen die Musiker des hr-Orchester noch einmal den ganzen romantischen Impetus heraus, wobei ihnen der Fanfaren-Charakter dieser Ouvertüre sicherlich half. Bei Wagners Musik – vor allem den Vorspielen – spielt dann der Hall der Eberbacher Basilika auch keine so einschneidende Rolle. Zwar wirkt die Musik vor allem in den Tutti zeitweise dadurch etwas breiig, aber dieser Effekt wirkt sich angesichts der Mächtigkeit der Musik nicht signifikant aus. So hatte Andrés Orozco-Estrada bereits nach der „Wagner-Revue“ den Erfolg sicher, war das Publikum doch sichtlich beeindruckt von der Verve und der Kompromisslosigkeit dieser Musik.
Das war dann bei Hector Berlioz´ „Symphonie fantastique“ ganz ähnlich, wenn auch mit ganz anderen Klangfarben und einer unterschiedlichen Programmatik. Geht es bei Wagner um nichts geringeres als die Erlösung des Menschen, beschreibt Berlioz in seiner Sinfonie nach gut französischer Art die Leiden eines verschmähten Liebhabers. Da zieht er im langen ersten Satz alle Register lyrischer Träumereien und nicht ausgelebter Leidenschaften, um sich im zweiten Satz Luft zu schaffen durch die musikalische Beschreibung eines luftig-tänzerischen Balles. Die „Szene auf dem Land“ erinnert fast ein wenig an den entsprechenden Satz in Beethovens 6. Sinfonie und versucht, die erregten Sinne durch Natureindrücke wieder zu beruhigen, bevor im vierten Satz der Tod naht. Hier setzt Berlioz das düstere Thema einer Hinrichtung in Klänge und unerbittliche Marschrhythmen um und lässt zum Schluss mit einem gewaltigen orchestralen Schlag sogar das Fallbeil niedersausen. Der letzte Satz – „Traum einer Sabbatnacht“ übertitelt – liefert dann noch einmal ein höllisches Gemenge jenseitiger Klänge, die an Goethes Walpurgisnacht erinnern und in einem beinahe schon drohenden „Dies Irae“ enden.
Die vordergründig menschliche Programmatik dieser Sinfonie überzeigt gerade wegen ihrer Offenheit und des Verzichts auf musikalische Überhöhung oder Verfremdung. Die einzelnen Sätze arbeiten ihre Titel buchstäblich ab und hinterlassen den von der Überschrift versprochenen Eindruck. Man fühlt sich bei dieser Sinfonie ein wenig wie der Besucher der Hölle in Dantes „Göttlicher Komödie“ und empfindet Berlioz´Musik durchaus nicht als zweitklassige Programm-Musik. Wagner mag das anders gesehen haben.
Auch hier entwickelte das hr-Orchester unter der umsichtigen Leitung seines Dirigenten eine wahre Klangfülle und reizte die Möglichkeiten der Partitur nach allen Regeln der Kunst aus. Die Basilika des Klosters war an diesem Abend erfüllt von Wehklagen, Sehnsüchten und Höllenqualen, und man war froh, dass es sich hier nur um einen Konzert handelte. Doch bis zum letzten Akkord schlug das Orchester die Zuhörer in seinen Bann und entließ sie erst lange Sekunden, nachdem die letzten Töne verklungen waren.
Frank Raudszus
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