Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ ist eines der faszinierendsten, anrührendsten und abgründigsten Werke der Musikliteratur. Es enthält nahezu alle Ausdrucksvarianten menschlicher Sehnsüchte und Enttäuschungen bis hin zur todesnahen Resignation. Als ein Eckpfeiler bürgerlicher Kunst- und vor allem Musikauffassung wurde es oft künstlerisch überhöht und von allem allzu Menschlichen entkernt.
Der Bariton André Schuen hat in seinem Gastspiel in Darmstadt diesen Zyklus im Zusammenspiel mit dem Pianisten Daniel Heide auf die Ebene konkreter menschlicher Empfindungen zurückgeführt und verleiht den Gedichten Wilhelm Müllers mit seiner Interpretation eine besonders nahe gehende Wirkung. Schuen besticht nicht nur mit einer warmen, variablen Stimme, sondern darüber hinaus verleiht er jeder einzelnen Strophe eine einzigartige emotionale Färbung, mit der er die jeweilige Befindlichkeit des Protagonisten hinter den in Ich-Form vorgetragenen Gedichten auf einzigartige Art und Weise zum Ausdruck bringt. Man durchleidet förmlich mit ihm zusammen die abgrundtiefe Einsamkeit und Lebensenttäuschung, die weit über einfachen Liebeskummer hinausgeht. Der englische Sänger Ian Bostridge hat in seinem Buch über die „Winterreise“ verschiedene Deutungen – politische und psychologische – vorgelegt. Ob diese nun im Einzelnen zutreffen oder nicht: sie alle sind in gewisser Weise in der Interpretation André Schuens eingeschlossen. Letzten Endes geht es um das Leiden eines sensiblen Individuums in einer Welt des ungerechten Zufalls und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid eines Einzelnen.
Das beginnt bereits in dem einleitenden Lied „Gute Nacht“ mit einer expressiven, kräftigen Intonation. Hier fällt auch schon die klare Artikulation auf, die für hohe Verständlichkeit sorgt und damit unmittelbar den Zusammenhang von Text und Musik verdeutlicht. Die „Wetterfahne“ gerät punktuell zu einem wahren Aufschrei, der in den „Gefror´nen Tropfen“ buchstäblich einfriert. In der „Erstarrung“ modelliert Schuen den Text als Inkarnation des Titels, und im „Lindenbaum“ tauchen zum ersten Mal lyrisch-wehmütige Erinnerungen auf.
Nach der lyrischen Intensität der „Wasserflut“ bilden Stimme und Klavier vernehmbar das knackende Eis des abweisenden, weil zugefrorenen Flusses nach, und die einsetzende Verzweiflung steigert sich nach einem kurzen „Rückblick“ auf das verlorene Glück im „Irrlicht“ zur finalen Todessehnsucht.
So geht es über die verschiedenen Stationen dieser Reise am Rande des Todes weiter, sei es „Im Dorfe“, bei der „Rast“ oder im „Wirtshaus“des nächtlichen Friedhofs. „Die Krähe“ und „Der greise Kopf“ kommen als unmissverständliche Todeszeichen hinzu, und „Der Leiermann“ setzt einen geradezu endzeitlichen Schlusspunkt, dessen vordergründige musikalische Leere nur noch als bewusste Metapher zu verstehen ist.
André Schuen verlieh jedem dieser vierundzwanzig Gedichte seine eigene Prägung, wobei seine Stimme alle Schattierungen von erinnerungsgesättigter Leichtigkeit über trotziges Aufbegehren und plötzliche Verzweiflung bis hin zur tödlich-kalten Resignation bis ins feinste Detail nachzeichnete. Dabei nutzten er und sein Begleiter Daniel Heide die Möglichkeiten des Ritardando und der Pausen virtuos, ohne dabei in falsche Sentimentalität zu verfallen. Bei aller Intensität des Ausdrucks bewahrten beide eine gewisse Strenge, die sie vor Vordergründigkeit schützte. Schuen setzte Gesten und Mimik nur sehr sparsam ein, um die Wirkung des gesanglichen Vortrags nicht zu überdecken oder gar zu mindern, und Daniel Heide verwendete dramatische oder emotionale Effekte ebenfalls mit viel Überlegung. Dadurch erhielt der gesamte Vortrag eine ausgesprochen authentische, um jegliche Zweiteffekte bereinigte Wirkung.
Hervorzuheben ist auch Daniel Heides variable Anschlag, der sich je nach Inhalt der jeweiligen Strophe vom kräftigen Zupacken ins feinste Verhuschen zurückziehen konnte. Beide Musiker formten die Gedichte Wilhelm Müllers von Strophe zu Strophe nach ihrem jeweiligen Gehalt und durchliefen dabei alle menschlichen Emotionen von der zarten Hoffnung über die wehmütige Erinnerung bis zur nicht mehr umkehrbaren Verzweiflung.
Das Publikum erwies sich als lebendiger Beweis für die Wirkung dieser Darbietung durch das fast völlige Ausbleiben der sonst üblichen Hustenattacken. Man spürte den Bann der Musik fast körperlich im Raum. Entsprechend kräftig fiel der Schlussbeifall aus – nach einigen Augenblicken des gebannten Nachklangs und respektvollen Verharrens.
Frank Raudszus
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