Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ hat in der Literaturbranche einigen Wirbel ausgelöst und ist auch hier besprochen worden. Nicht zuletzt die politischen Umbrüche in den USA dürften der Grund für die Einladung zu einer Lesung gewesen sein, ist doch Paul Auster einer der schärfsten Kritiker des neuen Präsidenten. Zu der Lesung hatten das Literaturhaus und das SchauspielFrankfurt gemeinsam eingeladen.
Die Publikumsresonanz war derart hoch, dass am Abend der Lesung trotz ausverkauftem Haus noch eine längere Schlange von Interessenten bis zum Beginn auf zurückgegebene Karten hoffte. Dennoch blieben schließlich einzelne Plätze frei.
Nach einer kurzen Einführung durch einen Vertreter des Literaturhauses erschienen Paul Auster – gerade 70 geworden – und der Literaturkritiker Daniel Haas von der Hamburger ZEIT auf der Bühne. Haas bescheinigte dem Roman die besondere Eigenart, dass man als Leser buchstäblich „darin leben könne“, und befragte den Autor zum Entstehungsprozess. Auster erstaunte das Publikum mit der Antwort, dass dieses Buch in einer „composition like a fury“ entstanden sei. Für weit kürzere Bücher habe er wesentlich länger gebraucht. Die gesamte Entstehungszeit bezifferte er auf drei Jahre.
Das Buch über vier alternative Lebensläufe des Protagonisten Archibald Ferguson beginnt mit dessen Geburt und endet, wenn er etwa Mitte zwanzig ist. Laut Auster ist der Roman ein „account of human development“, zu Deutsch ein Entwicklungsroman. Es sei ihm dabei um die Empfindungsebenen in unterschiedlichen Lebensaltern eines heranwachsenden Menschen gegangen. Der Fünfjährige fühlt und denkt anders als der Achtjährige, der Zwölfjährige oder der Sechzehnjährige. Damit sei auch ein Abbild der jeweiligen Zeitgeschichte einhergegangen. Archibald kommt – wie Paul Auster! – 1947 zur Welt, erlebt den Koreakrieg als Kind und den Vietnamkrieg als junger Mann. Die Rassenunruhen und die entsprechenden Gleichstellungsgesetze gehören ebenso in diese Zeit wie die Proteste der Studenten und die Revolten der Schwarzen. Auster betonte jedoch, dass dieser Roman keine Autobiographie sei. Nur ein einziges Ereignis – ein Baseball-Spiel – habe er aus der eigenen Erinnerung genommen, der Rest sei – abgesehen von historischen Ereignissen – reine Fiktion.
Paul Auster betonte, dass er auf traumatische Erlebnisse seines Protagonisten verzichtet habe, da diese die Psyche meist stark verzerrten und damit keinen Vergleich unterschiedlicher Lebensläufe mehr zuließen. Ihm geht es um das „normal life“ des Bürgers, das sich ebenfalls an vielen Stellen durch unterschiedliche Ereignisse in verschiedene Bahnen verzweigen kann. Dabei bleibt der Kern des Menschen für Paul Auster unverändert. So kommen seine vier Versionen des Archibald Ferguson alle zum Schreiben, einer als Schriftsteller, einer als Lyriker, einer als Journalist und einer als Filmschaffender. Ihre charakterlichen Ausprägungen seien jedoch – bedingt durch ihren jeweiligen Lebenslauf – ganz unterschiedlich: der erste ist introvertiert, der zweite selbstbewusst, der dritte desorientiert, und der vierte habe ein starkes Vaterproblem.
Daniel Haas entdeckte auch eine beiläufige Bemerkung über das Schreiben in dem Roman, die für ihn geradezu aphoristischen Charakter hat: „writing fiction is remembering things that never happened“. Und eine zweite entlockte er dem Buch auch gleich: „puberty is exile in your own home“. Paul Auster zeigte sich amüsiert bis leicht überrascht über diese gründliche Lektüre und fügte noch die eine oder andere Bemerkung hinzu, die diese beide und ähnliche Sätze erweiterten und erklärten, und fühlte sich bei dieser Veranstaltung offensichtlich wohl. Natürlich kam die Sprache auch auf den neuen Präsidenten, den er nur „DT“ nannte und mit deutlichen Statements bedachte, ohne deswegen Tiraden gegen Trump vom Stapel zu lassen. Die wenigen Aussagen dazu waren markant und treffend und zeigten seine tiefe Beunruhigung über den derzeitigen Spaltungsprozess in der US-Gesellschaft. Alle seien aufgefordert, wachsam zu seine und ihre Stimme zu erheben, wo es nötig sei. Die Schriftsteller haben hier natürlich eine besondere Aufgabe, können sie doch durch ihre Bücher Einfluss ausüben.
Anschließend las erst der Schauspieler Christoph Pütthoff ein Kapitel des Romans in der deutschen Übersetzung, dann Paul Auster selbst das Anschlusskapitel im englischen Original. Der „vollmundige“ amerikanische Tonfall des Autors erschwerte das Verständnis im Detail, doch die Aussage des Textes ging dabei nicht verloren.
Anschließend signierte Paul Auster die Bücher im Foyer, die man dort auch erwerben konnte. Aus offensichtlich gegebenem Anlass verwies Daniel Haas jedoch noch einmal ausdrücklich darauf, dass Auster pro Person nur ein Buch signieren und diese Signatur auch auf seinen Namen beschränken werde.
Man kann diesen Abend mit Paul Auster als einen großen Erfolg sowohl für das SchauspielFrankfurt als auch für das Literaturhaus betrachten.
Frank Raudszus
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