Die „Orestie“ des antiken Tragödienschreibers Aischylos ist den meisten Lesern nur als Abfolge blutiger Familienmorde bekannt. Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie für besseren Wind nach Troja und wird dafür nach seiner Rückkehr von seiner Frau Klytemnestra und deren Geliebten Aigisth ermordet. Daraufhin schwören die Kinder Elektra und Orest, angefeuert von Apoll und den Erynnien, Rache, und Orest tötet seine eigene Mutter und ihren Geliebten. Die Göttin Athene jedoch gebietet weiteren, von den Erynnien vehement geforderten Racheaktionen Einhalt und übergibt den Fall des Orest einem Athener, das heißt menschlichem Gericht, das Orest schließlich freispricht. Dieses eher prosaische Ende eines wuchtigen Mythos‘ ist weit weniger bekannt als die blutrünstigen Passagen, nicht zuletzt deshalb, weil diese wesentlich spektakulärer sind. Mit ihm setzt nach einhelliger Meinung der Historiker und Philologen der Übergang von einer rein mythischen zu einer rationalen, an der menschlichen Vernunft ausgerichteten Weltsicht ein.
In Darmstadt hat Regisseur Gustav Rueb die neue Übersetzung des antiken Textes von Kurt Steinmann herangezogen, weil dieser die schon in der Antike als zu kompliziert kritisierte Sprache Aischylos´ in ein verständliches Deutsch übersetzt hat, ohne dabei die metrischen und künstlerischen Eigenschaften der antiken Versform zu sehr zu korrumpieren. Steinmann bietet mit seiner Übersetzung keinen Jargon des 21. Jahrhunderts an, sondern bewahrt den hohen Klang, wie wir ihn von älteren Übersetzungen kennen. Damit belässt er dem Stück den – man möchte fast sagen „weihevollen“ – antiken Tenor, der existenzielle Kämpfe und Konflikte aus einer hohen Warte behandelt.
Darüber hinaus hat Rueb für seine Inszenierung einen ungewohnten Ansatzpunkt gewählt. Üblicherweise werden Mythen und Geschichten in chronologischer Reihenfolge erzählt. Auf diese Weise weckt ein Verbrechen bei den Zuschauern Abscheu und einen spontanen Affekt der Rache. Das Publikum ist durch die Schilderung des Verbrechens sozusagen bereits vorbelastet. Wenn man die Reihenfolge jedoch invertiert und die Geschichte von hinten erzählt, sieht man erst den Racheakt und erfährt später den Grund. In diesem Fall nimmt man spontan die Rolle des Opfers (des Racheaktes) an und muss sich erst später die Gründe für die Untat rational vergegenwärtigen. Dann jedoch ist die verfügbare Empathie meist schon verbraucht. Das erinnert ein wenig an heutige Gerichtsprozesse, bei denen der Täter im Vordergrund steht, dessen Taten jedoch in der Vergangenheit liegen und Opfer betreffen, die sich oftmals nicht mehr äußern können. Gustav Rueb will durch seine invertierte Erzählweise den affektiven Automatismus der Rache nicht nur aushebeln sondern generell einen Denkprozess auslösen, der auf eine scheinbar „natürliche“ Abfolge emotionaler Reaktionen verzichtet und jede Handlung aus der Rückschau betrachtet, sozusagen „sine ira et studio“.
Das führt natürlich zu dramaturgischen Konsequenzen, die sich auf die Dauer der Inszenierung auswirken. Anstatt die Handlung aus den einzelnen Situationen und Konflikten chronologisch zu entwickeln, schildert diese Art der Inszenierung zuerst die finale Situation und anschließend die Entwicklung. Dies führt jedoch automatisch zu Verdoppelungen und damit zu Längen, denn am Ende muss die Rückblende den bereits gezeigten Endzustand herbeiführen. Das hat in dieser Inszenierung der „Orestie“ zur Folge, dass die Ermordungen sowohl Agamemnons als auch später Klytemnestras und Aigisths mehrmals gezeigt werden. Damit nicht genug, geht Rueb auch noch intensiv auf das Innenleben Orests ein, der sowohl seine Morde als auch die seiner Mutter als Trauma gespeichert hat und davon nicht loskommt. So muss Klytemnestra auch nach ihrem gewaltsamen Tod wieder auferstehen und ihren Mord noch einmal – in Orests Erinnerung – ausführen, und für ihn gilt dasselbe. Das könnte man natürlich andeuten und in die Worte verlegen, aber Rueb ist offensichtlich ein Anhänger deutlicher Bilder, und so lässt er die Protagonisten immer wieder mit blutgetränkter Kleidung auftreten und die Leichen der Getöteten in einer ausziehbaren Trage – wie in der Pathologie – zur Schau stellen. Theaterblut dürfte in dieser Inszenierung eine der gefragtesten Requisiten sein, und Besucher mit schwachen Nerven sollten sich mental auf diese Szenen vorbereiten, vor allem, da jeder Mord etwa drei Mal – wenn auch nur akustisch aus dem „Off“ – gezeigt wird.
Das Blutrünstige dieser Inszenierung ist angesichts des Mythos‘ durchaus nachvollziehbar und somit ein integraler Bestandteil der Handlung. Für das Bühnenbild gilt das jedoch weniger. Rueb hat als Handlungsort ein heutiges Kreuzfahrtschiff gewählt, wobei sich diese Interpretation im Wesentlichen aus dem Programmheft erschließt. Wer dies nicht gelesen hat, sieht ein Hotelfoyer mit großen schrägen Fenstern voller Wasserschlieren. Die muss man natürlich nicht mit Seewasser und Gischt in Verbindung bringen, und die als Hostessen verkleideten Erynnien könnten auch als Rezeptionistinnen eines Hotels durchgehen. Die Rolle des Chors übernimmt ein junger Animateur in maritim angehauchter Uniform, der die Zwischentexte über eine Videoleinwand ins Publikum spricht. Diese Leinwand zeigt die restliche Zeit einen leeren Mittelmeerstrand, der wahrscheinlich sowohl auf das antike Griechenland als auch auf das Kreuzfahrtthema verweisen soll.
Das Programmheft liefert als Hintergrund des Kreuzfahrtsujets einen Text des amerikanischen Romanciers David Foster Wallace über die tragischen Aspekte eines Kreuzfahrtschiffes, und damit ist der Rezeptionskreis geschlossen. Das Problem dabei ist die fehlende Verbindung zwischen dem Mythos der Orestie und einer Kreuzfahrt. Beide haben nichts miteinander gemeinsam, und das führt auch zu ungewollten Effekten. Wenn Wallace über die depressiven Seiten einer Kreuzfahrt nachdenkt, tut er dies im übertragenen Sinne, die Handlung der „Orestie“ lebt jedoch von ihren handfesten und sehr direkten Bezügen und Beziehungen, die mit der einlullenden De-Aktivierung von Kreuzfahrtreisenden absolut nichts zu tun haben. So bleibt das Bühnenbild bis zum Schluss ein Fremdkörper in dieser Inszenierung, weil die Handlung keinerlei Verweise auf dessen Elemente enthält – und umgekehrt. Leider verkehren sich die Effekte sogar ins Negative, wenn die Erynnien als Hostessen in entsprechenden Uniformen ganz andere Assoziationen als Furcht und Schrecken auslösen. Wenn die drei jungen Frauen ihre bösen Gesänge anstimmen, zeitigt das leider unfreiwillig komische Effekte, da man diesen beflissenen Damen im knappen Kostüm so gar nicht die Rachewut abnehmen will. Das adrette Äußere konterkariert die – obendrein nur selten glaubwürdigen – Hassgesänge der Erynnien.
Doch hat die Inszenierung auch Höhepunkte aufzuweisen. Eine davon ist Klytemnestras Rechtfertigung der Ermordung Agamemnons, den Karin Klein als geradezu verzweifelt-diabolischen Tanz auf den Leichen der Ermordeten zelebriert. Jana Zöll liefert einen eindrucksvollen Soloauftritt als zum Tode verurteilte Kassandra und zeigt den Mut, ihrer starken Körperbehinderung zum Trotz – oder sie gar nutzend – auf dem Bauch über die halbe Bühne zu robben. Karin Klein verleiht der Klytemnestra durch ihr intensives Spiel eine Bedeutung, die sie zum Mittelpunkt dieser Inszenierung macht. Jeder ihrer Auftritte gerät fast zum Fanal der Verzweiflung, der Selbstbehauptung und der Rache. Da hat Mathias Znidarec es schwer, sich in der Hauptrolle des Orest durchzusetzen. Er spielt die Rolle zwar mit viel Einsatz und emotionaler Verve, doch bleibt bei ihm stets ein Rest von Clown-Attitüde. In seiner Verzweiflung wirkt er stets ein wenig wie ein Halbwüchsiger, der mit den noch ungewohnten Anforderungen des Lebens nicht fertig wird. Ob dies von der Regie beabsichtigt ist oder seinem Naturell entspricht, sei dahingestellt, wir vermuten aber letzteres. Wirklich existentiell wirkt sein Spiel selten, meist eher etwas ironisiert, und Ironie ist keine typische Stilart antiker Tragödien.
Yana Robin la Baume kommt als Elektra erst im zweiten Teil zu Wort und spielt die Rolle der machtlosen aber verzweifelten Tochter überzeugend. Katharina Hintzen hat dagegen als Apoll eher eine undankbare Rolle, da Apoll als ironisch-überlegener Gott meist nur um die menschlichen Protagonisten herumschwebt und sich auf hohem Niveau über die Menschen und ihre Probleme amüsiert, wenn er sich nicht gerade mit Athene streitet. Diese spielt Samuel Koch mit langem Blondhaar und salbungsvollem Grundton, wie es einer schlichtenden Göttin zusteht. Hier ist auch die Schwachstelle des Stücks – und damit der Inszenierung: die abschließende Wendung von der emotional-affektiven Grundstimmung des mythischen Geschehens zur rational rechtsstaatlichen Ordnung erfolgt etwas zu plötzlich und vermittelt zum Ende hin den Eindruck einer pädagogisch wertvollen Schüleraufführung. Wohlgemerkt: das ist eine Schwäche des Stücks, die aber durch die etwas statische Inszenierung der letzten Szene noch betont wird. Wahrscheinlich können auch Spitzenschauspieler diesen „staatstragenden“ Ergüssen am Ende wenig Tiefe entlocken. Rueb belebt diese Szene zumindest dadurch, dass er das Licht im Zuschauersaal anschalten lässt und das Publikum unverkennbar zur Schöffenbank macht. Die Schauspieler warten denn auch in frontaler Stellung zum Publikum eine gefühlte Ewigkeit, bis Athene alias Samuel Koch als Ergebnis der Bürgerabstimmung den Freispruch von Orest verkündet.
Kräftiger Beifall am Schluss für die Darsteller und – neben ein paar Buhs – für die Regie.
Frank Raudszus
Alle Bilder © Wil van Iersel
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