Wenn eine Oper auf der Basis von Goethes „Faust“ auf dem Programm steht, stellen sich in deutschen Köpfen zwangsläufig vielfältige Assoziationen ein, die nur zu einem Teil die Begriffe Liebe, Treue und Untreue beinhalten. Zu viele geistesgeschichtliche und existenzielle Fragen knüpfen sich an dieses deutscheste aller Dramen, die „Inkarnation“ deutschen Denkens, Grübelns und Drängens, als dass man es auf ein erotisches Drama reduzieren könnte. Doch genau dies tat Charles Gounod, als er sich entschloss, den „Kronschatz“ deutscher Dichtung zu einer Oper zu verarbeiten. Im Stillen hätten sich wohl viele Deutsche gewünscht, dass ein Richard Wagner sich dieses Stoffes angenommen hätte, aber in der Realität war es ausgerechnet ein Franzose, der die einzige bedeutende Oper darüber komponiert hat. „Ausgerechnet“ deshalb, weil die geistreich-klare Art des französischen Denkens und Schreibens so gar nicht zum tiefgründigen und -gründelnden Grübeln nach deutscher Art passt.
So verwundert es auch nicht, dass Charles Gounod den metaphysischen Charakter der Beziehung zwischen Faust und Mephisto wegwischt und aus den beiden nur zwei smarte Typen macht, die – um einen ganz aktuellen Begriff zu verwenden – einen „Deal“ miteinander abschließen. Bei dem geht es jedoch nicht darum, zu erkennen, was die „Welt im Innersten zusammenhält“ sondern lediglich darum, einem wegen seines Alters frustrierten Mann seine Jugend zurückzugeben, auf dass er sich noch einmal allen möglichen Sinnesfreuden hingeben kann. Und so sind es die erotischen Genüsse, die – wie so oft – die Oper im Innersten zusammenhalten. Das muss nicht unbedingt Oberflächlichkeit zur Folge haben, da auch Liebesdramen zeitlose Wahrheiten zum Ausdruck bringen können.
Charles Gounod hat dies mit seiner Oper „Faust“ – die deswegen auch den alternativen Namen „Margarethe“ trägt – auf durchaus eindrucksvolle Weise geschafft. In seiner Oper spielt nicht Faus oder gar Mephisto sondern Margarethe – im Deutschen nur als Gretchen bekannt – die Hauptrolle. Sie ist die einzig Schuldlose und damit die Betrogene, Ausgebeutete und Verlassene. Doch im Gegensatz zu ihrem im letzten Moment sich als großherziger Retter aufspielenden Ex-Liebhaber Faust stellt sie sich ihrer Schuld und geht mit geläutertem Sinn aufrecht in den Tod. Bei Gounod wird diese letzte Szene wesentlich stärker – fast schon religiös eifern – im Sinne christlichen Reue und Demut ausgespielt als im Goethes Vorlage, in der Gretchen eher aus Verzweiflung sich der göttlichen Gnade ausliefert, doch die existenzielle Hoffnungslosigkeit dieser jungen Frau bringt Gounod überzeugend zum Ausdruck.
Dagegen bleiben Faust und Mephisto eher blasse Charaktere – immer verglichen mit Goethes Vorlage. Den alten Faust stellt Gounod gar nicht erst als Wissenschaftler vor, der um die letzten Erkenntnisse ringt, sondern nur als frustrierten Alten, und Mephisto wirkt eher wie ein smarter Gebrauchtwagenhändler oder gar Zuhälter, der für einen guten Seelenfang jegliche – bei ihm berufsbedingt sowieso nicht vorhandenen – Skrupel beiseite schiebt. In den Dialogen zwischen Faust und Mephisto geht es denn auch nie um gesellschaftliche, philosophische oder gar theologische Fragen, die bei Goethe die Gespräche dieser beiden weitgehend bestimmen, sondern nur darum, wie er Faust die Genüsse verschaffen kann, die dieser begehrt. Und dieser wiederum fragt auch nach nichts anderem als nach einem Zugang zu Gretchens Herz und Bett, wie ein Student, der zum ersten Mal ein Mädchen liebt und nicht weiß, wie er sich ihm nähern soll. Goethes Faust zeigt wegen seiner Lebenserfahrung, die er nach der Verjüngung ja nicht verliert, nur allgemeine Neugier an den schrillen Genüsse öffentlicher Erotik, Gounods Faust jedoch verliert mit seiner Verjüngung offensichtlich die Erinnerung an sein früheres Leben, gibt sich ganz seiner „ersten Liebe“ hin und ist von der grellen Erotik der von Mephisto gerufenen Geister nur irritiert.
Ob Gounod daneben Gesellschaftskritik beabsichtigt hat, bleibt dahingestellt. Einerseits ist ihm der grobe Handlungsrahmen vorgegeben, der in sich schon eine Kritik an männlicher Verantwortungslosigkeit beinhaltet, andererseits besteht bei dem Soldaten Valentin und seinem Ausflug in den Krieg durchaus Kritikpotential. Gounods Text hantiert denn auch viel mit den angeblichen Heldentaten der Soldaten im Felde, die lassen sich jedoch sowohl wortwörtlich als nationalistisches „Hurra“-Geschrei wie als bitterböse Satire auffassen.
Karsten Wiegand, Intendant und Regisseur dieser Inszenierung, setzt seine Interpretation der Oper an zwei Stellen an. In erster Linie geht es ihm um Margarethe und ihre Sicht auf die Ereignisse. Vor allem im zweiten Teil, wenn sich die anfängliche Verliebtheit in die Katastrophe einer verlassenen Schwangeren verwandelt hat: Faust mit Mephisto unterwegs beim Hexensabbat und sie allein mit einem Neugeborenen, dessen sie sich in ihrer gesellschaftlich bedingten Panik nur durch Tötung entledigen kann. Gretchen sieht sich umstellt von einer Umwelt, die sie entweder nicht wahrnimmt oder sie bewusst ausschließt, verspottet oder gar anspuckt. Rat- und hilflos irrt diese junge Frau, noch blutig von der Geburt und mit einem blutverschmierten Säugling im Arm, durch die imaginären Straßen einer feindlich gesinnten Stadt. Die Musik dröhnt ihr – und den Zuhörern – wie die Trompeten des Jüngsten Gerichts in den Ohren, und die Orgel der die moralische Hetzjagd erst richtig anheizenden Kirche verstärkt diesen apokalyptischen Eindruck noch. Die letzte Szene gerinnt dann zu Gretchens Apotheose, wenn sie sich allen Versuchungen der Selbstrettung widersetzt und sich der göttlichen Gnade anheimstellt.
Den zweiten Schwerpunkt setzt Wiegand bei den öffentlichen Szenen, die er als versteckte Pogrome oder als bellizistische Aufmärsche entlarvt. Erstere verdeutlicht er in der Ausgrenzung und Verstoßung Gretchens durch die Mitbürger, letztere in den Aufmärschen der Soldaten nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg. Da marschiert eine veritable Blaskapelle mit echten(!) Musikern auf, die ihre Beine mühsam wie Kriegsversehrt hinter sich herziehen. Dahinter folgt der Chor der Soödaten, die zu ihrem Gesang einen Formationstanz zeigen, der weitgehend durch Körperzuckungen aller Art gekennzeichnet ist, wie sie die Traumata eines Krieges hervorrufen können. Dazu erklingen die Texte über Heldentum und Schlachtenglück. Vor einem knappen Jahrhundert hätte diese Interpretation noch einen Theaterskandal oder gar Schlimmeres zur Folge gehabt, heute dagegen rennt eine Regie mit solcher – wenn auch verständlicher – Satire offene Türen ein.
Auch die Spaßgesellschaft mit ihrer grellen Erotik und fortgeschrittenen Infantilisierung nimmt Wiegand aufs Korn, wenn er die Genusswelten seinem Schützling zur gefälligen Nutzung vorstellt. In einem kunstvoll choreographierten Tanz bewegen sich die Mitglieder des Chores als grell geschminkte oder erotische aufgebrezelte Frauen und gierig schauende Männer dar, die wie Marionetten an den Fäden einer ultimativen Konsumgesellschaft hin- und herzucken. Das ist durchaus originell inszeniert und verleiht Gounods Oper noch einen kritischen Aspekt jenseits der menschlichen Tragödie um Gretchen.
Zu diesem Interpretation von Gounods Oper hat Bärbl Hohmann ein Bühnenbild geschaffen, das die jeweilige Szene mit einem ironischen Flair ausstattet. Wenn es ums Gold geht, an dem wir – ach so Armen – doch alle hängen, senkt sich ein buntgold schimmernder Vorhang hinter und um die Szene. Gretchens Zimmer wird dagegen von einer hoffnungsvoll-grünen Waldszene hinterlegt, die sich auf dem kleinen Häuschen wiederfindet, das Gretchens Schlafraum mal verdeckt, mal mit seiner offenen Seite zum Publikum öffnet. Nachdem sich die grünen Hoffnungen der „Er liebt mich“- Blumen verflüchtigt haben, ist von des „Frühlings Hoffnung“ des in dieser Oper fehlenden Osterspaziergangs nichts mehr geblieben als eine nackte Metallwand, an der sich die Mitglieder des Chors wie reuige Sünder an der Klagemauer aufreihen. Leider weckt diese Aufstellung – ein sicher unbeabsichtigter Effekt – auch prosaische bis platte Assoziationen….
Wenn auch die großen Themen aus Goethes „Faust“ hier sicher keine entsprechende Würdigung finden, so ist Gounods Musik doch der große Aktivposten. Neben den bekannten, geradezu „süffigen“ Arien von Gretchen (Katharina Persicke), Valentin (Oleksandr Prytolyuk), Faust (Philippe Do) und Mephisto (Adam Palka) ist dabei vor allem die kammermusikalische Ausrichtung des Orchesters zu nennen, das vor allem die lyrische Seite der Opernhandlung betont und nur in dramaturgisch unerlässlichen Passagen zum großen „Tutti“-Format aufläuft. Das hat nicht nur den Vorteil, dass die Sänger auf der Bühne ihre stimmlichen Fähigkeiten voll zum Tragen bringen können, sondern unterstrreicht auch den psychologisch-lyrischen Charakter dieser Oper. Das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel zelebriert Gounods Musik geradezu und arbeitet den emotionalen Gehalt der einzelnen Szenen und die psychischen Zwischentöne der Charaktere überzeugend heraus.
Dazu gesellen sich hervorragende stimmliche und darstellerische Leistungen des Bühnenpersonals. Allen voran ist hier Katharina Persicke in der Hauptrolle der Marguerite zu nennen. Sie besticht durch die Intensität ihrer Darstellung und die Präsenz wie Variabilität ihrer Stimme sowohl in den lyrischen wie auch dramatischen Szenen. Neben ihr kann sich Adam Palkas Bass behaupten, den neben seinen sängerischen Qualitäten allerdings auch noch die Dankbarkeit seiner Rolle – die stets das Böse will und stets den guten Applaus bewirkt – auszeichnet. Philippe Do leidet dagegen etwas unter der jungenhaft-naiven Auslegung seiner Rolle, sei sie nun von der Regie beabsichtigt oder von ihm selbst so ausgelegt. Seine stimmliche Leistung ist unbestritten, aber dem „jungen“ Faust verleiht er lediglich das Flair eines verliebten Studenten. Oleksandr Prytolyuk dagegen spielt und singt den Part des Valentin mit viel Bravour und verzweifeltem Trotz, während Jana Baumeister in der eher undankbaren Rolle des verliebten Siébel – auch dank etwas unglücklicher Kostümierung – keine großen Möglichkeiten zum glänzenden Auftritt vorfindet. Ingrid Katzengruber nutzt dagegen ihre Möglichkeiten in der Rolle der exaltierten Marthe Schwerdtlein mit Witz und stimmlicher wie darstellerischer Präsenz.
Das Premierenpublikum verteilte großzügigen Beifall, während die überraschenden „Buhs“ für die Regie etwas unmotiviert wirkten, hat doch Karsten Wiegand keinerlei Tabus oder mit irgendwelchen liebgewonnenen Gebräuchen gebrochen. Schließlich ist die letzte Inszenierung in Darmstadt zehn Jahre her.
Frank Raudszus
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