Kurt Tucholsky, streitbarer und aufrechter Journalist jüdischer Abstammung, starb im Jahr 1935 an einer Überdosis Schlaftabletten. Es könnte Selbstmord gewesen sein, da er aufgrund von Hitlers Aufstieg keine Zukunft für sein Heimatland sah und sich im schwedischen Exil überflüssig fühlte. Rückwirkend lässt sich sagen, dass ihm im Falle eines Verbleibs in Deutschland wohl ein viel schlimmeres Schicksal gedroht hätte.
Tucholskys Texte – meist unter den Pseudonymen Paul Panter, Theobald Tiger oder Kaspar Hauser erschienen – zeichnen sich durch einen treffenden Witz mit satirischer Note aus und legen den Finger in sämtliche politischen und gesellschaftlichen Wunden seiner Zeit. Sie sind trotz ihrer vordergründigen Zeitgebundenheit im Grunde genommen zeitlos, weil sie immer wieder die selben menschlichen Schwächen wie Macht- und Profitgier, Korruption und Heuchelei aufspießen. Besonders seine Texte gegen die frühe Bewegung der Nazionalsozialisten in den zwanziger Jahren gewinnen heute angesichts des Aufstiegs der AfD wieder erschreckende Aktualität. Das Darmstädter „Westside Theatre“, ursprünglich mit dem Schwerpunkt amerikanischer Bühnenstücke gegründet, hat daher diesem kritischen Journalisten anlässlich seines achtzigsten Todestages im Dezember 1935 eine eigene Revue gewidmet.
Auf der Bühne residiert Regisseur Peter H. Jähring als verstorbener Tucholsky blass geschminkt in einem fiktiven Jenseits und lässt sein Leben Revue passieren. Nima Conradt (ein männlicher Darsteller!) spielt mit rosa Kleid, blonder Perücke und einem weißen Flügelpaar auf dem Rücken eine himmlische Barfrau, die über den Zugang zu Tucholsky zu wachen hat. Marijke Jährling, die für die Auswahl und Zusammenstellung der Texte verantwortlich ist, tritt als „Running Gag“ von Zeit zu Zeit in einem langen grünen Mantel, einer graugrünen Militärmütze und einem schmalen Bärtchen in die Szenerie und verkündet mit schnarrender Stimme Abstrusitäten. Alles klar? Die Rolle des großen Diktators rahmt die ganze Veranstaltung wie ein Menetekel ein, denn Marijke Jährling eröffnet und beschließt den Abend in dieser eindeutigen Aufmachung.
Dazwischen laufen in schneller Folge die einzelnen Nummern der Revue ab, wobei der junge Lukas Moritz die Sänger am Klavier unaufdringlich aber professionell begleitet. Marijke Jährling spielt in einer kleinen „Serie“ einen jungen Arbeiter, der angetrunken in der (Himmels-)Bar landet und der Barfrau ohne Hemmungen seine politischen Ansichten vorlallt. An dieser Figur lässt sich Hitlers Wirkung auf das sogenannte „einfache Volk“ nachvollziehen, der die Ängste und Ressentiments des „kleinen Mannes“ für seine Zwecke zu nutzen wusste.
Das Gegenstück zu diesem „Underdog“ ist Herr Wendriner, in dem Kurt Tucholsky das gehobene Bürgertum der zwanziger Jahre karikierte. Doch diese Karikatur ist nicht grell und überzogen, sondern entfaltet ihre bedrohliche Wirkung gerade durch die äußerliche Wohlanständigkeit, hinter der jedoch ein stilles Einverständnis mit vielen Ansichten der Nationalsozialisten steckte. Man verachtete Adolf Hitler zwar als primitiven Demagogen – „Gefreiter des Weltkrieges!“ -, doch die Angst vor dem Bolschewismus war wesentlich größer als die Verachtung der Nazis. So verbreitet auch Herr Wendriner seine politischen Ansichten und Wünsche in mehreren Szenen mit unterschiedlichem Lokalkolorit und entlarvt sich letztlich als jemand, der den geschäftlichen Erfolg über alle politischen Aspekte stellt.
Denise Tavares gibt die junge Kitty, die den Großstadtbetrieb und vor allem die Charaktereigenschaften der Männer aus der Sicht eines naiven Mädchens kennenlernt und die sehr schnell ihre Naivität verliert. Außerdem sekundiert sie Herrn Wendriner noch als standesbewusste Ehefrau im Pelzmantel. Nima Conradt steuert einige Lieder aus dem „Milieu“ bei, das man als Barfrau bekanntlich bestens studieren kann, und überwacht ansonsten den ordnungsgemäßen Ablauf des Alltags in seiner bzw. ihrer Bar.
Natürlich dürfen bekannte Gedichte wie „Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt“ nicht fehlen, und Marijke Jährling trägt es mit sanfter Melancholie vor, nicht mit frecher Schnauze à la Claire Waldoff“. Ein anderer Text gilt der Karriere, die man in der Politik damals (und heute) am bessten durch die Hinterteile der Vorgesetzten machte, und Peter Jährling beklagt in einem anderen Tucholsky-Text, dass in der Politik seiner Zeit – auch und vor allem in der SPD – der Apparat wichtiger sei als Grundsätze.
Das Westside Theatre leuchtet mit dieser abwechslungsreichen Revue nicht nur die bewegten zwanziger Jahre mit den Kämpfen zwischen Demokratie, Kommunismus und Faschismus aus, sondern zeigt unterschwellig auch die Parallelen zur aktuellen Situation auf, ohne deswegen in Hysterie oder Pauschalisierung zu verfallen. Allein Tucholskys Texte weisen in ihrer Zeitlosigkeit – wie am Anfang bereits vermerkt – zwar unbewusst aber unmissverständlich auf unsere heutige Zeit.
Mit dieser Revue beschließt das Westside Theatre seine Zeit in der heutigen Spielstätte. Nicht mangelnder Erfolg führten zu diesem Ende sondern die ordnungsgemäße und schon seit längerem angekündigte Kündigung der Räume. Wir wünschen dem Westside Theater, dass es möglichst schnell eine neue Bleibe findet, damit wir auf diese lebendige Theaterstätte künftig nicht verzichten müssen.
Frank Raudszus
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