Das 2. Sinfoniekonzert der Saison 2016/2017 des Staatstheaters Darmstadt war großen Klassikern gewidmet. Das galt nicht nur für die Musikstücke – Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und Arnold Schönberg – sondern vor allem für den Dirigenten. Hans Drewanz, Jahrgang 1929, leitete über dreißig Jahre lang das Sinfonieorchester des Staatstheaters und wurde anschließend zum Ehrenmitglied des Orchesters ernannt. Seit seinem Abschied im Jahr 1994 leitet er jedes Jahr mindestens ein Sinfoniekonzert des Staatstheaters und erntet jedes Mal großen Applaus eines treuen Publikums. Insofern gehört auch er zu den „Klassikern“ des Musikbetriebes, und das nicht nur im südhessischen Raum. Es ist erstaunlich anzusehen, mit welch straffer Gangart der 86jährige Musiker die Bühne betritt und verlässt und mit welcher Spannung und Beweglichkeit er seine Arbeit am Dirigentenpult verrichtet.
Auf dem Programm dieses Novembersonntags stand zu Beginn Arnold Schönberg, den man zu Recht als „Klassiker der Moderne“ bezeichnen kann. Seine „Verklärte Nacht“, op. 4, aus dem Jahr 1899 bewegt sich noch ganz im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und man merkt diesem Stück deutlich an, welch großen Einfluss Richard Wagner auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode noch auf die Komponisten dieser Zeit ausübte. Dieses Werk trägt noch weitgehend tonale Züge und erinnert in vielen Passagen unverkennbar an den großen Opernkomponisten. Doch bisweilen wandert die Harmonik in neue Bereiche und weist damit deutlich ins 20. Jahrhundert.
Schönberg hat in dieser Komposition ein Gedicht des Lyrikers Richard Dehmel mit erotisch brisantem Inhalt vertont: eine Frau beichtet ihrem neuen Liebhaber bei einem nächtlichen Mondschein-Spaziergang, dass sie von einem anderen Manne schwanger sei. Der Mann jedoch akzeptiert die Situation und nimmt das kommende Kind als seins an. Schönberg hat das ursprünglich für ein Streichsextett komponierte Stück später für Streichorchester umgeschrieben, und in dieser Form kam es im Sinfoniekonzert zu Gehör. Es beginnt mit synkopischen Abwärtsfiguren, die programmatisch die Stimmung einer kalten, stillen Mondnacht wiedergeben. Schon hier sind die Anklänge an Wagner unüberhörbar. Später schlägt sich die emotional bewegte Rede der Frau im Aufruhr der Musik nieder, ihre Angst vor dem Verlust des Mannes, ihre Scham vor der bürgerlichen Schande – schließlich befinden wir uns am Ende des 19. Jahrhunderts! – und ihr unbedingter Wille, dieses Kind zur Welt zu bringen, fechten einen inneren Kampf in ihr aus.
Das einsätzige Werk erstreckt sich fast über eine halbe Stunde und weist keine unmittelbar erkennbaren strukturellen Unterteilungen auf. Als eindeutig intendierte programmatische Musik folgt es den emotionalen Inhalten des Gedichts Strophe für Strophe, wobei jedoch eine satzweise Nachverfolgung aufgrund der freien Interpretation und der vielfältigen Assoziationen nicht möglich ist. Emotional bewegte Passagen wechseln sich ab mit wehmütigen, hoffnungsvollen und besänftigenden. Schönberg bettet diese Emotionen in ein komplexes Klanggeflecht ein, in dem er immer wieder kurze Motive variiert und an die tonalen Grenzen führt. In diesen Momenten löst er sich eindeutig vom wagnerischen Erbe und lässt eine Ahnung von der Musik des 20. Jahrhunderts aufkommen.
Das Orchester interpretierte diese für eine Konzerteinleitung ungewöhnlich lange und anspruchsvolle Komposition mit hoher Konzentration und viel Sinn für die Details. Hans Drewanz arbeitete die vielfältigen und ambivalenten Zwischentöne dieser Komposition geradezu akribisch heraus und ließ damit in dieser halben Stunde die komplexe Welt des „Fin de siècle“ wieder aufleben.
Danach erfolgte eine Volte rückwärts um einhundert Jahre zu Beethovens 3. Klavierkonzert in c-Moll aus dem Jahr 1803. Als Solist saß der 37jährige Herbert Schuch am Flügel. Er gehört zum Kreis der international renommierten Pianisten und ist in vielen Konzerthäusern und bei großen Festivals ständiger Gast. Bei heutigen Spitzenpianisten braucht man ihre technische Perfektion nicht mehr explizit hervorzuheben, sie ist sozusagen gesetzt, wie auch bei Herbert Schuch. Ein leichter und doch markanter Anschlag prägt sein Spiel, und permanent bricht sich eine originäre Spielfreude Bahn.
Hans Drewanz begann den ersten Satz mit forschem Tempo, und das Orchestervorspiel geriet fast zu einer kleinen Oper mit allen Facetten von Lyrik und Dramatik. Herbert Schuch näherte sich Beethovens Musik mit einer fast jungenhaften Direktheit und verzichtete auf jegliche Unterwerfung unter das Genie Beethoven. Lebendig und kontrastreich ging er den ersten Satz an, der in eine lange, ausgefeilte Kadenz mündet. Hier konnte Schuch nicht nur sein technisches sondern vor allem sein musikalisches Können beweisen, und er tat es mit einer ausgesprochen spannungsgeladenen, aber dennoch nie nur virtuos-brillanten Interpretation. Den zweiten Satz – Andante cantabile – ging er mit extrem verzögerten Akkorden an und erreichte damit eine fast schon existenziell zu bezeichnende Intensität. Hans Drewanz und das Orchester folgten der ausgeprägten Agogik dieses Spiels mit hoher Aufmerksamkeit und reagierten in feiner Abstimmung auf die extrem verzögerten Akkorde des Solisten. Den Finalsatz eröffnete Herbert Schuch mit fast spielerischer Leichtigkeit, setzte dann jedoch mit zunehmender Dichte der Partitur deutliche Akzente, auf die das Orchester mit so markanten wie präzisen Einwürfen und motivischen Entgegnungen antwortete. Nach bestimmten pianistischen Passagen übergab Herbert Schuch mit deutlicher Körpersprache die Regie an das Orchester, so die Zusammenarbeit einfordernd und gestaltend. Orchester und Dirigent gingen auf dieses Spiel in kongenialer Weise ein und trugen zu einer in sich abgerundeten und bis ins letzte Detail durchgestalteten Interpretation dieses Beethovenschen Werkes bei. Bis zur letzten Note hielten Solist und Orchester das Publikum in ihrem Bann.
Der Beifall brach unmittelbar nach dem letzten Akkord und nahezu explosionsartig aus. Man spürte das Bedürfnis des Publikums, diese großartige Aufführung entsprechend zu würdigen. Dafür spielte Herbert Schuch als Zugabe und – wie Herbert Schuch selbst anmerkte – als Ersatz für den ausgefallenen Kirchgang noch einen Bach-Choral in einer Bearbeitung von Ferrucio Busoni .
Nach der Pause war Beethovens großer Vorgänger Mozart an der Reihe. Seine letzte Sinfonie mit dem – nicht von Mozart vergebenem – Titel „Jupiter“ stellt die Zusammenfassung seines gesamten sinfonischen Schaffens dar und füllt damit in der Tat die Rolle der „letzten Sinfonie“ im tieferen Sinne des Wortes aus. Die Tonart C-Dur verbreitet dabei eine abgeklärte Heiterkeit, mit der Mozart die eher düstere Stimmung der „großen g-Moll-Sinfonie“ wieder ein wenig aufhob.
Auch dieses Werk ging Hans Drewanz mit leicht forciertem Tempo an. Nicht zu schnell, aber man merkte ihm an, dass er die introvertierten, oft bewusst verlangsamten Interpretationen klassischer Werke nicht liebt. Seine Version kommt lebendig und mit frischem Tempo daher. Dabei arbeitete Drewanz die motivischen und dynamischen Kontraste mit viel Liebe zum Detail aus, und das Orchester folgte ihm mit wacher Intelligenz und hoher Präsenz. Im zweiten Satz bestach vor allem die sorgfältig herausgearbeitete Melodieführung des Hauptthemas, das fast lyrische Züge annahm. Im weiteren Verlauf dieses Satzes entwickeln sich eher dunkle Klangfarben, die wie drohende Wolken über eine friedliche Landschaft ziehen und ein wenig an die Ouvertüre zu „Don Giovanni“ erinnern. Hans Drewanz verlieh diesen Passagen eine Tiefe, die mit bloßer Lieblichkeit nichts mehr zu tun hatte. Das „Menuetto“ des dritten Satzes nahm er dann mit federnder Eleganz und spannungsgeladenem Elan, um im vierten Satz noch einmal kraftvoll und energisch den musikalischen Höhepunkt anzusteuern. In diesem äußerst komplexen Satz, der Elemente verschiedener Stilepochen zusammenbringt, bestach vor allem die präzise und dichte Interpretation der kontrapunktischen Passagen.
Der Beifall für Orchester und Dirigent galt nicht nur einem beeindruckenden sinfonischen Matinee, sondern vor allem einem großartigen Dirigenten, der auch im stolzen Alter von 86 Jahren nichts von seiner Vitalität und musikalischen Spannkraft verloren hat.
Frank Raudszus
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