Solange es das Theater gibt, steht die Frage im Raum, ob diese Kunstgattung eher die ewigen Probleme der Menschheit oder jeweils aktuelle „Tagesereignisse“ thematisieren soll. Für beide Sichtweisen gibt es gute Argumente, doch eins lässt sich mit Sicherheit sagen: es kann nicht schaden, aktuelle Probleme auf die Bühne zu hieven, und die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnt man damit auf jeden Fall.
Diese pragmatische Sicht der Aufgabe des Theaters hat sich das Schauspiel Frankfurt zu eigen gemacht und das neue Stück „Safe Places“ von Falk Richter nicht nur auf den Spielplan gesetzt sondern es auch gleich vom Autor selbst in Szene setzen lassen.
Textcollagen statt Handlung
„Safe Places“ ist eine reine Textcollage ohne eine Handlung im herkömmlichen Sinn. Die Texte bestehen weitgehend aus öffentlichen oder typischen privaten Meinungsäußerungen über Europa, Flüchtlinge, Massenmigration, Identität und Nationalismus. Da eine solche Textmontur leicht in ihrer eigenen Wortflut versinken kann, hat Falk Richter zusammen mit der Choreographin Anouk van Dijk ein getanztes Sprechtheater oder gesprochenes Tanztheater entwickelt, in dem beide Aspekte eines Bühnenwerks aufs engste miteinander verzahnt sind.
Minimalistisches Bühnenbild
Katrin Hoffmann hat dazu ein minimalistisches Bühnenbild geschaffen, das außer ein paar Baumgruppen – darunter eine typisch deutsche Birke – und einer Tischreihe mit Stühlen keine weiteren Requisiten enthält. Doch der Einschnitt in der Bühnenrückwand, der die zentrale Baumgruppe einrahmt, ist wie die Draufsicht einer von Grenzen geschützten Insel gestaltet, und dieses metaphorische Bild steht während der gesamten Aufführung wie ein Menetekel über dem Geschehen auf der Bühne.
Streit über die Flüchtlingspolitik
Gleich die erste Szene ist archetypisch und von subtiler Provokation. Zwei Frauen (Constanze Becker und Paula Hans) sowie zwei Männer (Nico Holonics und Marc Oliver Schulze) diskutieren in einer typischen Runde – private Einladung, Kaffeeküche in der Firma – die Folgen der Flüchtlingswelle. Die beiden Frauen sind dabei für die Ängste der Bevölkerung – Stichwort „Sylvester Köln“ – und die Männer für die Gegenseite zuständig. Doch die Regie gestaltet diese Szene im Zusammenspiel mit den vier Darstellern als meisterhaften Balanceakt zwischen Identifikation und Kritik. Keine der beide Argumentationsketten wird denunziert oder gar lächerlich gemacht, sondern die geäußerten Meinungen werden trotz – oder gerade wegen – der zugespitzten Emotionen als authentische Befindlichkeiten dargestellt, die bei aller Gegensätzlichkeit ernst zu nehmen sind. Falk Richter legt in dieser ersten Szene sozusagen das Sujet auf, ohne sich jedoch bereits auf eine Seite zu schlagen. Dass Paula Hans dabei ein wenig wie Frauke Petry aussieht, kann Zufall oder Absicht sein: es ändert nichts an der Tatsache einer elementaren Beunruhigung. Dasselbe gilt für Constanze Becker, die Ähnlichkeiten mit Beatrix von Storch aufweist. Später wird diese Ähnlichkeit jedoch aller Zufälligkeit enthoben.
Tanz als dramaturgische Ergänzung
Diese Szene ist allerdings bereits eingerahmt von einer tänzerischen Performance, die in manchen Aspekten an die Choreographien von William Forsythe erinnert. Die Tänzer bewegen sich um und auf den Tischen und Stühlen und lösen dabei die Ordnung der Möbel auf. Hier wird schon die Grundidee deutlich, mit den tänzerischen Einlagen zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß die Migrationsströme die Vorstellungen von Ordnung und Stabilität ins Wanken bringen. Und so ist die erwähnte Sprechszene bereits als Reaktion auf die scheinbar unkontrollierte Performance der Tänzer zu verstehen, die im Grunde nichts weiter als eine Metapher für den Ansturm der Migranten darstellt.
In diesem Stil geht es weiter: es folgen längere, kritische Texte über Geschichte und Schuld Europas – Kriege und Kolonisierung, Kapitalismus und vermeintlicher Freihandel – im Wechsel mit tänzerischen Abbildungen von Verfolgung, Tod und Flucht. Doch Richter verzichtet dabei auf jegliche Plakativität wie Blut oder Metzeleien. Das Vordergründige, Emotionalisierende ist nicht seine Vorgehensweise. Er zieht das aufklärende Wort und den metaphorischen Tanz vor, beides Techniken mit aufklärerischem Impetus ohne vorschnelle Schuldzuweisung.
Farce und Fallbeil
Auch die Farce ist Richter nicht fremd. So lässt er Constanze Becker alias Trixie alias Beatrix von Storch den Integrationswillen der Migranten einfordern – exemplarisch über das deutsche Brot – und sich dann in eine absurden Suada über die unzähligen deutschen Brotsorten hineinsteigern. Brot als Metapher für deutsche Leitkultur. Später wird Richter diese Figur weiter entblättern oder gar entlarven, wenn er Trixie die dokumentarisch belegte Familienchronik der von Storchs bis ins Dritte Reich aus eigener Sicht erzählen lässt. Die dabei gezeigte Reue und Verletzlichkeit der Erzählerin erweckt jedoch nur vordergründig den Eindruck von Empathie oder gar Verständnis. Die subtile Gemeinheit besteht darin, dass er Trixies Selbstauskunft als Selbstmitleid und Sympathiewerbung denunziert. Das mag als politisch-polemische Kunstfigur durchaus legitim sein, die plakative Verbindung zum verderbten Nazi-Großvater wirkt hier jedoch als Schlag unter die Gürtellinie, weil niemand etwas für seine Vorfahren kann – siehe Gabriel.
Apokalyptische Visionen
Außerdem schafft Richter sogar noch den Übergang zu einem veritablen Krieg, den er mit einer gewagten intellektuellen Volte aus der aktuellen Verfassung Europas ableitet. Constanze Becker erhebt sich wie ein spätromantischer Todesvogel mit schwarzen Schwingen und güldener Rüstung aus einem rauchenden Schützengraben – nur die Ironie legt sich schützend vor die Falltür des Kitsches – und zitiert ein Hölderlin-Gedicht über den edlen Tod fürs Vaterland.
Appelle und Belehrungen
Ein längerer didaktisch-pädagogischer Monolog über die Verantwortung Europas und seiner Bürger rundet dieses Lehrstück ab. Inhaltlich ist nichts gegen die Appelle und Mahnungen dieser Ansprache einzuwenden, doch der moralische Zeigefinger ist nicht zu übersehen, auch wenn Nico Holonics um möglichst unspektakuläre und lakonische Ausdrucksweise bemüht ist.
Selbstauskunft Betroffener
„Safe Places“ – „Sichere Orte“: über das Gefühl der Sicherheit – ob vorhanden oder gestört – berichten die Mitglieder der international gemischten Tanztruppe, wobei sie vor allem die aufkeimende Unsicherheit betonen, sobald sie auf ihre Andersartigkeit, sprich Nationalität, angesprochen werden. Hier gelingt Falk Richter sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch eine wahrhaft authentische Szene, die unmittelbar Betroffenheit auslöst.
Abgesang
Auf die letzte Szene könnte man eigentlich verzichten, denn in dieser tragen Nico Holonics und Paula Hans wie bei einem „Song Contest“ – Holonics mit Glitzerweste! – Lieder vor, deren Texte unmittelbar aus der Giftküche von AfD und Pegida entnommen worden sind. Das entbehrt zwar nicht eines gewissen polemischen Witzes, leidet jedoch unter der überdeutlichen (guten) Absicht und der fast schon penetranten Länge dieser Gesangseinlage. Man merkt die Absicht und ist ein wenig verstimmt.
Trotz der handlungslosen Collagetechnik und der zeitweise belehrenden Monologe kommt dieses Stück mit viel Tempo und auch scharfem Witz daher. Die Probleme mit der Migration und der Reaktion der Bevölkerung werden pointiert angesprochen und durchdekliniert. Dass am Ende keine Lösung auf den Bühnenbrettern liegt, ist weder dem Stück noch der Inszenierung noch gar den Darstellern anzulasten. Das ist einfach die Realität.
Starker und lang anhaltender Beifall des erfreulicherweise ausgesprochen jugendlichen Publikums.
Frank Raudszus
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