Die Inszenierung von Henrik Ibsens „Die Wildente“ im Staatstheater Darmstadt leidet unter Eindimensionalität
Es lohnt sich, bei dieser Inszenierung vorher das Programmheft zu studieren, denn es liefert eine unmittelbar erhellende Information: im Interview dreier Schriftsteller über „Moral“äußert sich Sybille Berg wie folgt: „…[die Welt] hat ein Stadium erreicht, in dem scheinbar alles beginnt, in sich zusammenzufallen. [….], alles reibt sich, es taugt nicht mehr zum gemütlichen Gespräch. Darum wird geschrien.“ Abgesehen davon, dass diese Sicht nur aus der Perspektive einer Generation zu verstehen ist, die mit Frieden und wachsendem Wohlstand aufgewachsen ist, liefert sie eine unmittelbare Deutung der Inszenierung des jungen Regisseurs Christoph Mehler. Denn hier wird in erster Linie geschrien, wie in Frank Castorfs „Volksbühne“. Mag dort – im eingekrusteten linken Milieu – die Vorstellung geherrscht haben, Psychologisierung von Personen sei (groß)bürgerliche Nabelschau und es gehe nur darum, das Leiden der unterdrückten (Arbeiter)Massen hinauszuschreien, so scheint hier die Enttäuschung über die „schlechte Welt“ der Anderen zu demselben Schluss geführt zu haben.
Worum geht es in diesem Stück? Im Grunde genommen um zwei Freunde, die sich nach sechzehn Jahren wiedersehen: Konsul Werles Sohn Gregers, der sein Elternhaus verlassen hat, weil sein Vater ein Verhältnis mit einer jungen Frau hatte, als die eigene Frau im Sterben lag; Hjalmar, der Sohn von Konsul Werles sozial abgestürztem ehemaligen Kompagnon Ekdal, der sein Leben als verwirrter alter Mann bei seinem Sohn fristet. Er hat Werles ehemalige Geliebte mit dessen finanzieller Unterstützung geheiratet. Ob die gemeinsame, vierzehnjährige(!) Tochter Hedwig sein oder Werles Kind ist, weiß nur der allmächtige Erzähler, der es aus dramaturgischen Gründen bis zum Schluss offen lässt. Gregers jedoch hegt an der Vaterschaft seines Vaters keinen Zweifel, kann er ihn doch umso härter moralisch verurteilen. In seiner fast fundamentalistischen Wahrheitsliebe beschließt er, Hjalmar aufzuklären und damit von seiner Lebenslüge zu befreien. Die besteht neben der vermeintlichen Unwissenheit über die Vaterschaft auch darin, dass er seiner Frau die gesamte Arbeit in dem schlecht gehenden Geschäft überlässt und sich stattdessen auf das Nachdenken über eine nebulöse, aber bedeutende Erfindung verlegt. Doch Gregers weltverbessernder Eifer führt zu einer familiären Katastrophe.
Diese Ausgangslage bietet einem Regisseur viele Möglichkeiten der Rollencharakteristik. Da ist der idealistische Weltverbesserer, der seine Rachegedanken mit moralischen Argumenten verkleidet und gleichzeitig eigene Versagensängste und schlechtes Gewissen kompensiert; da ist der Versager, der sich sein trostloses Leben als Denker und Erfinder schönredet und jede selbst verschuldete Katastrophe noch als eigenes Leiden verbrämt; da ist der Machtmensch – Konsul Werle -, der Menschen und Beziehungen um sich herum nach seinen Vorstellungen manipuliert und doch einsam bleibt; da ist die schlichte, aber pragmatische Ehefrau, die mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel versucht, das bescheidene Glück der kleinen Familie zu bewahren; da ist der heruntergekommene Träumer, der sein bürgerliches Scheitern in rückwärts gewandten Scheinaktivitäten vergisst, und da ist schließlich das vierzehnjährige Mädchen, das noch keine Erfahrung mit den Leiden des Lebens gesammelt hat und seinen Vater abgöttisch liebt. Nicht zu vergessen der Arzt, der seine Erkenntnisse über Lebenslügen in einer zentralen Szene des Stücks mit klaren Worten verdichtet.
Was macht Regisseur Mehler aus diesen Möglichkeiten? Das Bühnenbild von Jennifer Hörr beeindruckt mit seiner puristischen Konsequenz durchaus. Über die gesamte Bühnenfront erhebt sich eine Treppe, deren oberste Stufe im Bühnenhimmel verschwindet. Die Stufen sind derart hoch und steil, dass sich spontan die Befürchtung einstellt, die Darsteller könnten herabstürzen und sich dabei schwer verletzen. Diese Bedenken wachsen noch, wenn man die teilweise akrobatischen Bewegungen der Darsteller auf und zwischen den einzelnen Stufen sieht. Denn Mehler lässt sie jede Bewegung überzeichnen und ins Groteske verzerren. Wenn zum Beispiel Gregers (Christoph Bornmüller) und Hjalmar (Stefan Schuster) sich zum ersten Male treffen, so inszenieren sie sich dabei mit ekstatischen Bewegungen wie zwei jugendliche Selbstdarsteller aus einer pubertären Schulklasse. In anderen Szenen führen die Personen ihre verbalen oder physischen Auseinandersetzungen über mehrere Stufen auf eine Weise, die auch mal schief gehen kann. Die Treppe ist gleichzeitig eine Metapher der sozialen Ordnung, in der Oben und Unten deutlich getrennt ist. Folgerichtig hält sich Konsul Werle meist oben auf, während der alte Ekdal sowie die junge Hedwig ihr Dasein ganz unten auf der sozialen Leiter fristen.
Bei den Kostümen – ebenfalls von Jennifer Hörr – stellen sich jedoch bereits Fragen. Hubert Schlemmer ist als Konsul Werle mit einer wallenden, weißblonden Perücke und einem weiten Mantel ausgestattet, die ihn als typischen, fast schon klischeehaften Oberschichtvertreter ausweisen. Hier fehlt nur noch die Zigarre. Der Arzt Dr. Relling (Christian Klischat) gleicht äußerlich mit seinem langen Fusselhaar, der Sonnenbrille, dem langen Mantel und der Jogginghose eher einem bekifften Althippie und lümmelt sich über längere Zeit – wenn er keinen Text zu sprechen hat – auf den Stufen herum. Angesichts seiner moderierenden und mahnenden Rolle bleibt diese Verkleidung rätselhaft. Die vierzehnjährige Hedwig (Anabel Möbius) dagegen erscheint im kurzen Kleidchen – oder Nachthemdchen? – eines kleinen Mädchens. Auch hier liegt eine Unstimmigkeit nicht nur gegenüber dem Urtext sondern auch gegenüber dem gesprochenen Text („Ich bin vierzehn Jahre alt“) vor. Bei Katharina Hintzen wiederum wird aus Konsul Werles Haushälterin und zukünftigen Frau Sørby eine junge, mehr als kesse Frau in sehr leichtem Aufzug. Hier hat die Regie die von Sørby ehrlich gemeinte“Offenheit“ offenbar aus einer anderen Perspektive gedeutet.
Die Fragen zu den Kostümen führen unmittelbar zur Personenregie, denn die Kostüme sind nicht zufällig so ausgefallen. Mehler lässt die Darsteller weitgehend nach einer Strategie der grotesken Verfremdung oder gar Verzerrung agieren. In den meisten Szenen, seien sie banal, dramatisch oder gar tragisch, überzeichnen sie die Bewegungen zu Parodien ihrer selbst wie Clowns in einer Zirkusarena, die auch Alltagssituationen ins Groteske verzerren. Diese Regietechnik wenden Regisseure gerne an, um Undarstellbares – Terror, Grausamkeit, Folter – szenisch abzubilden. Erst die scheinbar komische Distanz zum Schrecklichen lässt das Entsetzen in den Köpfen der Zuschauer entstehen, während moralische Entrüstung eher eine zustimmend-affirmative Reaktion auslöst. Doch in komplexen psychologischen Sprechstücken kann dies nicht funktionieren, weil der scharfe Kontrast zwischen Gegenstand und Darstellung fehlt. Durch diese Verzerrung ins Farcenhafte erhalten all diese Szenen etwas Beliebiges und scheinbar Komisches. Ob Gregers seinen Wahrheitsfundamentalismus predigt, Konsul Werle sich mit seinem Sohn zerstreitet, Hjalmar sich in seinen Träume von der großen Erfindung verliert oder Dr. Relling seine Erkenntnisse zur Lebenslüge vorträgt – wegen der parodistischen Körpersprache und der überzogenen Diktion wirkt alles komisch oder gar lächerlich. Dazu trägt auch die schnoddrige Alltagssprache bei, die sich vor allem bei Gregers und Sørby des Öfteren an der Aussage des Textes reibt und damit die Tendenz zur jugendlich coolen Sprache noch verstärkt.
Doch damit nicht genug, werden die meisten Szenen vor allem von den Männern in einem Schreiton vorgetragen, den man sonst nur von der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf kennt. Vor allem Christoph Bornmüller und Stefan Schuster übertreffen sich als Gregers und Hjalmar gegenseitig in längeren Schreianfällen. Als Hauptfiguren und Antagonisten des Stücks prägen sie damit die ganze Inszenierung. Psychologische Konturierung der Personen mit ihren Brüchen ist Christoph Mehlers Ziel nicht. Er setzt auf möglichst lautes, affektives Sprechen – Schreien -, dass die Frustration und die Wut der Personen darstellen soll. Das wiederum passt nicht zu der Handlung, denn Gregers ist vor allem Hjalmar gegenüber eher salbungsvoll wie ein Prediger (wenn man den Quelltext liest), und Hjalmar ist bis kurz vor Schluss mit seinem (armseligen) Leben dank seiner Lebenslüge eigentlich sehr zufrieden. Es besteht also kein Grund zum Schreien. Gerade durch dieses nuancenlose Herauspressen des Textes gewinnen die beiden nie an Kontur sondern bringen nur wie Wahlredner auf Großveranstaltungen ihre Meinung mit möglichst großer Lautstärke unters Volk. Vordergründig mag das wie gerechte Wut über eine „schlechte weil ungerechte Welt“ wirken und auch spontanen Beifall eines vor allem jugendlichen Publikums finden, mit Ibsens Stück über zwei komplizierte Charaktere voller Abgründe hat das jedoch nicht viel zu tun. Abgesehen von wenigen leiseren Stellen wirkt die Inszenierung deshalb eindimensional, phasenweise sogar platt.
Zu den starken Szenen gehören die Auftritte von Gabriele Drechsel als Gina, die dieser armen Frau Konturen von aufopfernder Fürsorge über leise Verzweiflung bis zum Aufbegehren verleiht, und von Anabel Möbius, die in den wenigen Textstellen, die ihr zur Verfügung stehen, tatsächlich Betroffenheit weckt. Da ist es um so bedauerlicher, dass ihr Text gegen Ende unter dem hohlen Raumhall von Gregers´ alias Christoph Bornmüllers Mikrophon-Tiraden in Unverständlichkeit abrutscht. Stefan Schuster und Christoph Bornmüller tun zwar ihr bestes und leisten auch Schwerstarbeit, doch ihre darstellerischen Fähigkeiten können sie nur begrenzt ausspielen. Auch Hubert Schlemmer bleibt unter seinen Möglichkeiten, weil er den Konsul offensichtlich nur als machtbesessenen Paten darstellen und den Durchbruch der Einsamkeit und der Altersangst nur als Groteske darstellen darf. Dass er auch anders kann, weiß man. Warum Christian Klischat seinen längeren – und zentralen! – Monolog über Art und Sinn der Lebenslüge zusammengekrümmt in seine herunter hängenden Haare sprechen – oder eher stammeln – muss, erschließt sich dem Zuschauer in keiner Weise. Jörg Zirnstein spielt den bereits verwirrten alten Ekdal mit einer versteckten Ironie, die der Rolle durchaus angemessen ist. Und Katharina Hintzen gibt die Frau Sørby durchaus überzeugend, aber gerade die Ausprägung dieser Rolle passt nicht in das Bild der übrigen Gesellschaft, und man kann sich auch keinen Reim daraus machen, warum diese einfache Frau – langjährige, bereits verwitwete Haushälterin – nun als junger Vamp daherkommt. Auch da meldet sich der Verdacht eines Zugeständnisses an ein junges, vermeintlich auf Effekte gestimmtes Publikum.
Eben dieses Publikum applaudierte denn auch begeistert und geizte nicht mit „Bravo“-Rufen. Der positive Aspekt dabei ist die deutliche Verjüngung des Premierenpublikums, doch wenn diese nur auf Kosten einer konsistenten und tiefer gehenden Inszenierung zu erreichen ist, ist Skepsis durchaus angebracht.
Frank Raudszus
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