Wann ist uns dieses spröde Wort schon einmal begegnet? Im üblichen Sprachgebrauch erscheint es nicht. Welche Bedeutung kann es haben? Etwas widerfährt uns, kommt auf uns zu. Annehmen wollen wir es anfangs nicht, aber es ist so stark, dass es unser Leben beeinflusst. Außerdem spielt die „Erfahrnis“ im Sinne von Erfahrung eine Rolle. Alles, was uns widerfährt, ist ein Teil unserer Erfahrung. In Bodo Kirchhoffs Novelle ist die „Widerfahrnis“ ständiger Begleiter und spielt mit den Menschen grad wie es ihr passt.
Der Protagonist Reither ist noch nicht lange aus dem Berufsleben als Verleger ausgeschieden. Er lebt allein am Rande der Alpen, nimmt sich Zeit für das Leben und gönnt sich Ruhe. In der Bibliothek des Ortes ist ihm ein Buch ohne Titel begegnet, das auf dem Umschlag einzig den Namen der Autorin trägt. Plötzlich steht genau diese Person, Leonie Palm, vor seiner Tür und bricht in sein Leben ein. Eigentlich will sie nur einen Gesprächstermin vereinbaren. Doch die Widerfahrnis will mehr: will das Leben der Protagonisten durcheinander wirbeln und beide auf eine abenteuerliche Reise zu sich und zueinander schicken; will alles, was die Beiden in sich tragen – Prägungen, Sehnsüchte und Schmerzen, aber auch Träume, Traumata und Verluste -, in die Waagschale werfen und alles neu mischen.
Aus einer kurz gemeinten Begegnung wird eine erlebnisreiche Autofahrt durch Italien, auf der sich eine zarte, behutsame Beziehung anbahnt. Beide sind nicht mehr die Jüngsten und bewegen sich vorsichtig tastend aufeinander zu.
Kaum sind hier die ersten Schritte geschafft, betritt ein Flüchtlingsmädchen die Szenerie und wirbelt alles durcheinander, was sich gerade erst konsolidiert hat. Hier bietet sich die Möglichkeit, ein gutes Werk zu tun, indem man die Kleine betreut, versorgt und neu einkleidet. Es keimen Gedanken, wie es wäre, zu Dritt eine neue Familie aufzubauen, und das alte Kinderspiel von Vater, Mutter und Kind wird kurzzeitig ausgelebt.
Doch die Widerfahrnis hat anderes mit den Protagonisten vor. Wieder wirbelt das Schicksal alles durcheinander und mischt die Karten neu. Die Kleinfamilie löst sich jäh wieder auf. Und auch die Liebe können Reither und Leonie nicht festhalten.
Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ spielt mit den Zufällen des Lebens, die selbst lebenserfahrene Menschen nicht mit Gelassenheit und Klugheit bewältigen können. In einem Strudel von Gefühlen und zufälligen Begegnungen geben sich die Helden ihren Sehnsüchten hin und hoffen auf Erfüllung. Gerne möchten sie die Einsamkeit gegen die Zweisamkeit, den Verlust der eigenen Kinder gegen ein gefundenes Kind eintauschen. Wenn das Leben denn so einfach wäre.
Das allein hätte für ein Romanthema genügt. Dass zum Schluss noch eine Flüchtlingsfamilie aus Afrika ins Boot geholt und der Vergleich zur Heiligen Familie gezogen wird, erscheint dagegen aufgesetzt und als etwas zu viel des Guten. Bis zu dem Augenblick, da das fremde Mädchen verschwindet, ist die Geschichte konsistent und konsequent erzählt. Dann jedoch taucht im letzten Kapitel die Migrantenfamilie wie ein „deus ex machina“ aus dem Nichts auf und führt zu einer abrupten Wendung, die sich in keiner Weise aus der Konstellation des restlichen Buches ergibt. Hier drängt sich der Verdacht auf, der Autor habe mit den Kritikern, speziell den Buchpreis-Juroren, ein Spiel gespielt und ihnen eine Falle gestellt. Für seinen großen Roman „Die Liebe in groben Zügen“ hat der Autor im Jahr 2013 keinen Buchpreis erhalten. Dies lag wohl auch daran, dass die Juroren Gesinnung höher bewerten als literarische Qualitäten und Kirchhoff diese Neigung in dem Roman nicht ausreichend bediente. Daher könnte es durchaus sein, dass er aus einem bitter-ironischen Drang die überraschende und durch nichts begründete Schlusspointe mit der „heiligen Migrantenfamilie“ gezielt eingebracht hat, um die Reaktion der Juroren zu testen. Vielleicht mehr als sarkastischen Scherz denn als ernstgemeinten Versuch, den Buchpreis zu gewinnen. Und siehe da – er gewann ihn. Quod erat demonstrandum!
Das Buch „Widerfahrnis“ ist in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, umfasst 224 Seiten und kostet 21 Euro.
Barbara Raudszus
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