Varieté-Shows mit Akrobatik leben üblicherweise vom Glamour-Effekt. Ankündigungen vom Conferencier im Frack, Künstler im hautengen Glitzeranzug, der dramatische Tusch von der Kapelle gehören dazu wie der Zauberer oder die Ballett-Truppe in aufregenden Kostümen. Und über allem strahlen das Lächeln und die Begeisterung der Künstler, deren einziges Ziel es ist, das Publikum mitzureißen und in eine Welt der schönen, glitzernden Illusionen zu entführen.
Unterlaufen von Gewohnheiten
Ganz anders tritt der schwedische „Cirkus Cirkör“ auf, der im Berliner Varieté „Chamäleon“ sein Programm „Underart“ präsentiert. Der Titel klingt ein wenig nach „Underground“, und das nicht zufällig. Denn dieses Programm unterläuft auf subversive Art jegliche Sehgewohnheiten, die das Varieté-Publikum im Laufe der Zeit entwickelt hat. Das drückt sich bereits im Bühnenbild aus: Nebel wie im Londoner November oder in einer Discothek nach dem Ende des Abends füllt die Bühne, auf der neben einer Bauleiter und ein paar Musikinstrumenten keine weiteren Requisiten zu sehen sind, schon gar keine glitzernden oder glamourösen.
Und auch der Auftritt der Künstler entspricht diesem kulturellen „Understatement“. Nach ein oder zwei untätigen Minuten schlurft ein eher freizeitmäßig gekleideter „Freak“ auf die Bühne, schaut sich um und begibt sich dann langsam zum Keyboard. Eine junge Frau, ebenfalls alternativ gekleidet, folgt ihm ebenso beiläufig und nimmt Platz an einem anderen Instrument. Dann erscheinen nacheinander die anderen Künstler, jeder nach seiner eigenen Façon gekleidet und scheinbar lustlos. Dann beginnt einer von ihnen mit Zuckungen zu Geräuschen der Instrumente, die eher von einer Baustelle statt von einer Musikband zu kommen scheinen. Das entwickelt sich weiter zu einem choreographierten Tanz der Gruppe zu unirdisch anmutenden digitalen Tönen, der eher den Eindruck eines Fitness-Centers als einer Varieté-Bühne vermittelt.
Die Akrobatik steckt im Detail
Während man noch darüber nachdenkt, ob das denn nun alles sei oder ob man hier auch noch Varieté erwarten könne, beginnt die Akrobatik sich zu entwickeln, langsam und anfangs fast unmerklich mit eher einfach und unspektakulär anmutenden Paarübungen. Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass diese Übungen die höchste Konzentration und Abstimmung erfordern. Es sieht zwar aus, als würden einige aus dem sozialen Rahmen gefallene Jugendliche eines trostlosen Vorstadtviertels miteinander verschiedene körperliche Spielchen veranstalten, ist aber bereits gekonnte Akrobatik, die jedoch den „Show“Aspekt bewusst konterkariert.
Langsam aber stetig steigern sich der Schwierigkeitsgrad und der Effekt, wobei auch hier immer eine scheinbar unfreiwillige Komik mitspielt, etwa bei dem altägyptischen Reifenspiel, das nichts anderes als ein Tanz mit Hula-Hoop-Reifen ist, jedoch mit ausgesprochen hoher Kunstfertigkeit. Die wird jedoch mit der „coolen“ Nonchalance jugendlicher Freaks geboten, als sei das Ganze eine Kleinigkeit. Eine ähnliche Wirkung üben die Kunststücke mit zwei mannshohen Holzbrettern aus, die wie von einer Baustelle entwendet aussehen. An ihnen zeigen die Mitglieder des „Cirkus Cirkör“ – ein Name, der übrigens etwas mit „Cirque“ und „Coeur“ zu tun hat – ihre bewundernswerte Körperbeherrschung und millimetergenaue Arbeit. Im akrobatischen Mittelpunkt steht dabei eine junge Frau (Iris Pelz), durchtrainiert und höchst beweglich, die für die gewagtesten Kunststücke zuständig ist. Es geht dabei nicht um die bekannten Großtaten am Trapez hoch unter der Zirkuskuppel, sondern um scheinbar einfache Situationen, die jedoch durch die Konstellation der Geräte und Beteiligten plötzlich zu einer akrobatischen Herausforderung werden. Jeder Zuschauer erfasst die Situation intuitiv und hält die Luft bis zum erlösenden Beifall an, der dann jedes Mal zu Recht ertönt. Doch alle diese „Kunststücke“ verbreiten ein wenig die Anmutung von spontanen Spielen auf dem Platz vor dem Hochhaus, und entsprechend ausdruckslos und „cool“ sind auch die Gesichtszüge der Beteiligten, als wenn sich Arbeitslose die Zeit vertreiben würden. So marschiert ein „Menschenturm“ aus drei aufeinander stehenden Akrobaten (eigentlich nur zwei, der unterste steht normal) über die gesamte Bühne, als sei das die reinste Normalität, und bei einem anderen Kunststück trägt ein junger Mann (Christopher Schlunk) die besagte Dame stehend auf den Schultern und meistert rückwärts gehend mehrere – für ihn – unsichtbare Hindernisse.
Akrobatik trifft TanzTheater
Ein Paartanz verleiht dem Begriff „pas de deux“ eine völlig neue, avancierte Bedeutung, dann wieder tanzt die ganze Gruppe nach einer ausgefeilten Choreographie, während am Bühnenrand Lametta im künstlichen Wind flattert und Disconebel auf die Bühne quillt. Die zweite Frau des Teams (Methinee Wong Trakoon), mit ihrem südländischen Aussehen und dem roten Anzug das genaue Gegenstück zu ihrer sportlich asketischen Kollegin, legt ein längeres Solo hin, das man als Mischung aus TanzTheater und Bodenakrobatik bezeichnen könnte. Und die Kollegin Pelz antwortet darauf mit einer Höhenübung, nachdem sie ein weiterer Menschenturm an der Bühnendecke hat hängen lassen. Von dort aus muss sie sich punkt- und fußgenau auf die gekreuzten Hände zweier junger Männer fallen lassen. Zum Schluss zeigen vier Künstler einen Kopfstand mit dem Kopf in einem großen Goldfischglas, so dass vier kreisrunde „Wasserköpfe“ ins Publikum glotzen.
Unterirdische Musik
Ein wichtiger Erfolgsfaktor dieses Programms ist die Musik von Anna Ahnlund und Andreas Tengblad, die – ganz im Gegensatz zu den poppigen oder dramatischen Untermalungen herkömmlicher Varietés – einen unterirdisch anmutenden Klang kreieren. Auch hier unterläuft die Gruppe die Hörerwartung und -gewohnheit. Der Sound dieser Musik schwankt zwischen Introvertiertheit, Melancholie und Weltferne. In dieser Musik manifestiert sich die Befindlichkeit der Abgehängten und Verlierer, die keine Kraft mehr zur Rebellion haben und sich in die Düsternis der eigenen Seele zurückziehen. Die Musik unterlegt damit die nach außen gezeigte Gleichgültigkeit und „Coolness“ der Akteure mit passgenauen Klängen. Der eigentliche Reiz und die Spannung dieses Programms besteht in dem Gegensatz zwischen scheinbarer Beiläufigkeit sowie Desorganisation und der Perfektion der akrobatischen Vorführungen. Man kann dieses Programm, das übrigens ohne ein einziges gesprochenes Wort auskommt, durchaus als subtile Gesellschaftskritik interpretieren. Scheinbare Verlierer, die alles zum Sieger in sich tragen.
Bleiben vom Team noch zu nennen Matias Salmenaho, der unter anderem mit Jonglage beeindruckt, und der „Street Dancer“ Alexander Dam.
Viel Beifall für ein Programm, das gar nicht so „schräg“ ist, wie man es im ersten Augenblick sehen will.
Frank Raudszus
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