Das Staatstheater Darmstadt eröffnet die Saison mit einer gewagten Doppelinszenierung
Wenn im September die Theater-und Opernsaison wieder beginnt, freuen sich viele Abonnenten und andere Opernfreunde auf spannendes, vielseitiges Musiktheater. Nun sind vor allem die Abonnenten nicht unbedingt Anhänger der modernen, experimentellen Oper, und viele hängen sogar noch am klassischen Repertoire mit Verdi, Mozart und anderen großen Namen. So ist ein Theater immer gut beraten, wenn es mit einem „Repertoire-Renner“ beginnt. Man stimmt so das Publikum positiv und kann ihm dann später auch schwere Kost zumuten. Es muss ja nicht gleich eine abgespielte Operette wie der „Zigeunerbaron“ sein.
Doch in Darmstadt hat man in diesem Jahr einen konträren Ansatz gewählt. Für die erste Premiere stand Béla Bartóks Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ auf dem Programm. Nun ist das zwar eine Oper des 20. Jahrhunderts, die nicht unbedingt zum klassischen Repertoire gehört, experimentell kann man sie jedoch nicht nennen. Sie gehört sogar in gewissem Sinne bereits zum Repertoire. Doch mit ihrer begrenzten Dauer von nur etwa einer Stunde füllt sie keinen Opernabend, schon gar nicht bei einer Premiere. Daher verfiel die Intendanz auf die Idee, Bartóks Oper zwei Stücke aus dem Musiktheater-Wettbewerb vom letzten Juni voranzustellen. In diesem Wettbewerb hatten sich fünf internationale Komponisten mit jeweils etwa halbstündigen Einaktern präsentiert. Aus diesem Wettbewerb hatte das Theater für den Premierenabend die zwei Werke „.onion“ von Sivan Cohen Elias (Israel) und „(On) The Other Side of The Skin. Lullaby“ von Marta Gentilucci (Italien) .
In der – ab dieser Spielzeit im großen Haus stattfindenden – Einführung gaben die Regisseure der drei Inszenierungen eine kurze Inhaltsangabe zu den jeweiligen Stücken – und das war auch gut so! Denn vor allem die beiden Werken aus dem Wettbewerb zeichneten sich durch eine Rätselhaftigkeit aus, die sich durch reines Hinschauen und -hören nicht auflösen ließ.
Der Titel „.onion“ verweist auf das sogenannte „Darknet“, den dunklen Teil des Internets, in dem sich Besucher vollkommen anonym bewegen können, um dort kriminelle Transaktionen zu tätigen. Das Darknet ist natürlich Ziel verschiedener polizeilicher und geheimdienstlicher Aktivitäten, lässt sich jedoch aufgrund seiner technischen Struktur nur sehr schwer durchleuchten. Sivan Cohen Elias hat denn auch einen sehr verworrenen, um nicht zu sagen chaotischen Ansatz gewählt. Auf der Bühne sind neben einer gelben Telefonzelle nur drei Instrumentalplätze zu sehen, an denen Musiker mit dem Rücken zum Publikum Geräusche produzieren. Das Orchester sekundiert aus dem Graben bei dieser Geräuschkulisse, die in erster Linie das Zielt verfolgt, die gefühlten Klänge der Internet-Technik – denn echte Klänge gibt es in der digitalen Maschinerie nicht – in analoge Klangflächen umzusetzen. In entsprechenden SF-Filmen unterlegt man Computeraktivitäten ja gerne – gegen alle Empirik – mit Pfeif- und Funkgeräuschen aller Art, weil das so schön kalt und gefährlich klingt. Daher lässt die Komponistin die drei „Solomusiker“ ihre Instrumente auf der Bühne – ein Cello, eine Geige und eine Gitarre – auf die seltsamste Art und Weise malträtieren, nur nicht im herkömmlichen Sinne spielen.
Die Personenregie weist ebenfalls einige Eigentümlichkeiten auf, die dem Verständnis nicht gerade zuträglich sind. So sind die Solomusiker als Matrosen mit blutbefleckten Uniformen kostümiert, und ein seltsames Geschöpf in einem Kleid und mit einem großen Kunstkopf trägt Dinge auf der Bühne umher, deren Sinn man ohne die Einführung nie verstehen würde. Zu Beginn erscheint auf der Rückwand ein Video mit einem Marineoffizier, der in einem beengten Raum vor sich hin redet. Diese Äußerungen dringen von Zeit zu Zeit in Form eines rudimentären Gesangs über die Elektronik nach draußen, doch es sind eher stimmliche Fetzen als geordnete Tonfolgen oder gar ein Text. Dieser Mann (Mark Adler) sitzt natürlich in der Telefonzelle und kommuniziert von dort per Telefon mit der Außenwelt. Dank der Einführung kann man sich zusammenreimen, dass dieser Mann aus seiner klaustrophobischen PC-Welt im Darknet surft und sich dort unter anderem eine Pistole besorgt. Die Marineuniformen lassen sich dann wahlweise als Bebilderung des Begriffs „Durchs Internet surfen“ interpretieren – ein Surfbrett an der Wand unterstützt diese Sicht – oder als Militarisierung des Internets. Beide Interpretationen wirken gewollt, da sie sich vom Thema her nicht gerade aufdrängen.
Zusammen mit dem – übrigens schwer einzuspielenden – Orchesterpart und den Geräuschattacken auf der Bühne entsteht ein ziemlich chaotisches Gesamtbild, das keinerlei nachvollziehbare Entwicklung zeigt. Neben den mimischen Eskapaden Mark Adlers im übergroßen Videoformat dominieren vor allem die vermeintlich geheimnisvollen und menschenfeindlichen Geräusche der digitalen Welt, deren Schattenseite sich im Darknet manifestiert.
Etwas geschlossener kommt die zweite Produktion von Marta Gentilucci daher. Sie spürt in „(On) The Other Side of The Skin. Lullaby“ der Körperlichkeit der Klänge und deren Wirkung auf den weiblichen Körper nach. Auf einer leeren Bühne umarmen sich zwei Frauen, die man als Mutter und Tochter interpretieren kann. Dazu erklingen aus dem Orchestergraben kurze unterirdische Klänge mit einer Konsistenz zwischen Streichern und Holzbläsern. Während die Frauen auf der Bühne sich trennen, die Tochter (Aki Hashimoto) sich fast gewaltsam von ihrer Mutter (Katja Stuber) abnabelt, entwickelt das Orchester weitgehend atonale Klangmalereien, die den emotionalen Wechsel des Bühnengeschehens zwischen Zärtlichkeit, Abwehr und Agression intonieren sollen. Die anfangs reinen wenn auch nicht liedhaften Töne der beiden Sängerinnen wandeln sich im Laufe der Szene in Stimmgeräusche aller akustischen Schattierungen. Hier geht es nicht mehr um Gesang, sondern um die Möglichkeit stimmlicher Geräusche und ihren emotionalen Gehalt. Ein je vierköpfiger Chor auf beiden Bühnenseiten begleitet die Aktionen der beiden Frauen mit gegeneinander versetzten Tonfolgen, die eine Art polyphoner Klangflächen erzeugen. Zu diesen gehört auch die totale Stille, die bisweilen abrupt eintritt und nahezu eine Minute anhält, bis die Geräuschkulisse wieder einsetzt.
Im Gegensatz zum ersten Stück besticht dieses Werk durch das klare und dichte Bühnengeschehen, das auf jegliche sekundären Effekte oder gar „Gags“ verzichtet und sich ganz auf das Thema der „weiblichen Klänge“ konzentriert. Zwar ist das Verständnis auch hier ohne Einführung oder Programmheft sehr begrenzt, doch die optisch-akustische Wirkung überzeugt wesentlich mehr als in der Darknet-Satire. Doch aufgrund des experimentellen Charakters und vieler offener Fragen entließ das Publikum die Darsteller und das Regieteam beider Stücke nur mit schwachem Anstandsbeifall in die Pause.
Bartóks Oper zeigte dagegen von Beginn an deutlich kohärentere Züge. Hier handelt es sich schließlich um ein nachvollziehbares Handlungsgerüst, dass von einer ausgereiften, tonalen Musik kongenial interpretiert wird. Dazu kommt eine klare Gliederung des Librettos, das einen ansteigenden Spannungsbogen aufweist und sich damit auch musikalisch überzeugend umsetzen lässt.
Der geheimnisvolle Herzog Blaubart (Krzysztof Szumanski) hat die geliebte Judith (Katrin Gerstenberger) auf seine Burg eingeladen. Während er sie wiederholt um Küsse bittet, insistiert sie darauf, hinter alle sieben Türe seiner Burg zu schauen. Widerstrebend öffnet er eine Tür nach der anderen, begleitet von abwehrenden Bemerkungen und Bitten um Liebe. Judith entdeckt hinter den ersten Türen blutige Waffen und Geräte und drängt, erschreckt von diesem Anblick, auf die Öffnung weiterer Türen. Blaubarts zunehmende, fast verzweifelte Abwehr korrespondiert mit Judith wachsendem und angstvollem Drängen. Bei der fünften Tür erscheint statt des gesungenen Berichts über das hinter der Tür Gesehene nur Katrin Gerstenbergers entsetztes und dann haltlos weinendes Gesicht auf einer großen Videoleinwand an der Bühnenrückwand. Von diesem Augenblick an wird die Videoeinspielung bis zum Schluss die Inszenierung in einem die Spannung steigernden Sinn nicht mehr verlassen und sogar durch zusätzliche Bild- und Farbeffekte die Wirkung noch erweitern. Was hinter der letzten Tür zu sehen ist, lässt sich im Bild nicht mehr darstellen, doch Judiths Reaktion lässt die Ahnung aufkommen, dass hinter dieser Tür Blaubarts toten Frauen liegen. Für ihn leben sie jedoch weiter, wenn auch nur in der Erinnerung, und jede von ihnen ist einer Tageszeit zugeordnet.
Bei Bartók ist das Ganze natürlich nicht mehr das blutige Schauerdrama aus der Legendenschatz, sondern eine Metapher für Blaubarts seelischen Abgründe, die er hinter den harmlosen „Türen“ eines vermeintlich zivilisierten Lebens versteckt hat und nicht preisgeben will. Judiths insistierende Nachfragen beenden nicht nur Blaubarts große Lebenslüge sondern schließlich auch ihre Liebe, die sie anfangs noch mehrere Male betont hat. Am Schluss sitzen sie Rücken an Rücken, voneinander abgewandt und warten auf ein wie immer auch geartetes Ende.
Bühnenbildner Christoph Ernst hat für diese Oper eine Bühnenbild geschaffen, das entfernt an Joseph Beuys erinnert. Zwei Holzgestelle tragen eine langes, wie eine lange, schlanke Muschel gestaltetes Brett, drei längere Metallträger strecken sich wie ein Fächer auf dem Bühnenboden. Beides ist ohne erkenntlichen Zweck oder Bezug zum Wesen einer Burg, und die sieben Türen tauchen auch nur im Text auf. Das knappe Bühnenbild und die etwas statische Regie von Isabel Ostermann lassen einerseits wenig Dynamik aufkommen, konzentrieren die Inszenierung aber andererseits auf die beiden Personen. Die Spannung liegt weniger in der Handlung als in den Dialogen der Protagonisten. Katrin Gerstenberger und Krzystof Szumanski überzeugen vor allem stimmlich, halten sich szenisch jedoch eher zurück. Der Schwerpunkt dieser Inszenierung liegt in der Musik, die das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel mit bemerkenswerter Dichte und Spannung interpretiert. Michael Nündel nutzt den Freiraum, den ihm die knappe, fast puristische Inszenierung gewährt, in bewundernswerter Weise für eine eindringliche musikalische Darbietung, die das Publikum von Anfang bis Ende in ihren Bann schlägt und bewirkt, dass man als Zuhörer am Ende die Musik deutlicher in Erinnerung behält als die Handlung auf der Bühne.
Kräftiger Beifall am Schluss, der die Maßstäbe nach dem schwachen, fast widerstrebendem Beifall zur Pause wieder etwas zurechtrückte.
Frank Raudszus
No comments yet.