Josef Formánek: „Die Wahrheit sagen“

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Ein bitterer Schelmenroman des späten 20. Jahrhunderts.

Zwei Schelmenromane über Kriegszeiten haben in der deutschsprachigen Literatur Ikonenstatus erworben: Grimmelshausens „Simplicissimus“ und Haseks „Der brave Soldat Schweijk“. Beide versuchen, dem unfassbar Widersinnigen und Grausamen großer Kriege mit scheinbarer Naivität und einer Art schwarzen Humors zu begegnen, da weder moralischer Ernst noch emotionale Entrüstung dem Sachverhalt gerecht werden können und stets als hilflose Reaktion erscheinen. So beschreibt Simplex die Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges aus der unwissenden Sicht eines Kindes, und Schwejk entlarvt die irrsinnige Logik des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive eines geistig schlichten Menschen, der schon mit ganz einfachem „gesunden Menschenverstand“ die Widersprüche von Politik und Krieg entlarvt.

1608_wahrheitDer tschechische Journalist und Schriftsteller Josef Formánek, Jahrgang 1969, liefert mit dem vorliegenden Roman ein ähnliches Bild der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt auf der kommunistischen Herrschaft. Dabei kleidet er die eigentliche Handlung in den Rahmen einer journalistischen Recherche, die in ein Buch mündet – eben dieses. Der Ich-Erzähler ist ohne Schwierigkeiten als der Autor zu erkennen, obwohl man dessen Darsellung nicht als dokumentarische Autobiographie missverstehen sondern eine gewisse Distanz einkalkulieren sollte. Der Ich-Erzähler spielt auch nur die Rolle des Gesprächspartners und Fragestellers, der das Leben des eigentlichen Protagonisten aus dessen Erzählungen rekonstruiert. Er trifft ihn zufällig nach einer durchzechten Nacht, als er sich traut, den einsamen Bewohner einer heruntergekommenen Holzhütte auf dem Gipfel einer Müllkippe anzusprechen. Aus dem anfangs eher knurrigen Wortwechsel entwickelt sich dank der Beharrlichkeit des Journalisten eine längere Beziehung, deren Ergebnis das vorliegende Buch ist.

Bernard Mares, so der Name des alten Einsiedlers, kam im Jahr 1924 sozusagen als Waise zur Welt, als Ergebnis einer ungewollten Schwangerschaft, das auf den Treppen einer Kirche landete. Über den Küster findet er eine erste Bleibe bei dessen alleinstehender Schwester, die ihn die ersten Jahre aufzieht. Dann verrät eine eifersüchtige Freundin die ungesetzliche Mutterschaft und verliert die Freundin durch Selbstmord, nachdem diese den Ziehsohn ans Waisenhaus verloren hat. Dort, bei bigotten und hartherzigen Nonnen, erlebt Bernhard eine freudlose Kindheit und Jugend, verliert seinen einzigen Freund und Mitwaisen an dessen Mutter, die offensichtlich irgendwann aus dem horizontalen Gewerbe ausgestiegen ist, und landet in einer ausbeuterischen Bäckerlehre, die den Wunsch nach Freiheit einerseits und Zugehörigkeit andererseits in ihm stetig ansteigen lässt.

Da kommen die Rekrutierungsversuche der SS – mittlerweile ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen – gerade recht. Obwohl noch nicht achtzehnjährig, wird er in die SS aufgenommen, verpasst aber durch einen Zufall – welch ein Glück! – die obligatorische Eingravierung der SS-Nummer. Als LKW-Fahrer einer Nachschubeinheit erlebt er den Russlandfeldzug, sieht neben sich die Kameraden sterben, überlebt aber selbst jedes Mal wie durch ein Wunder. Mittelbar – als Fahrer – ist er sogar an Massenermordungen von Gefangenen und Zivilisten beteiligt, betrachtet diese mit ähnlicher Ungläubigkeit wie Simplex, ohne jedoch daran zu zerbrechen. Denn seine jugendliche Naivität und sein durch die Bigotterie des Waisenhauses nur rudimentär entwickeltes moralisches Verständnis ermöglichen ihm kein existenzielles Entsetzen.

Nach Kriegsende und kurzem Zwischenspiel als Gefangener der US-Army landet er bei der Roten Armee und wird dort – wieder durch Zufall – dank seiner deutschen und tschechischen Sprachkenntnisse zum Dolmetscher. Als eine ehemalige Geliebte arglos seine SS-Vergangenheit erwähnt, entgeht er dem Tod wieder nur durch Zufall, den Tipp eines Freundes und einen schießfreudigen russischen General und landet später als Obdachloser ausgerechnet in der Zentrale der tschechoslowakischen kommunistischen Partei. Dort macht er dank seiner Sprachkenntnisse und seiner Schweigsamkeit fast wider Willen schnell Karriere als Parteisekretär, bis er merkt, dass die Aufdeckung seiner SS-Vergangenheit nur eine Frage der Zeit ist. Nach seiner gelungenen Flucht in die Bundesrepublik wird er jedoch von den dortigen Behörden zurückgeschickt und landet umgehend im Gefängnis. Damit beginnt sein Leidensweg durch sozialistische Gefängnisse. Zum Tode verurteilt, muss er die stetige Dezimierung der anderen Todeskandidaten durch Hinrichtung erleben. Als er als Vorletzter aus der Zelle geführt wird, rettet ihn wieder der Zufall in Gestalt eines neugierigen – und gutwilligen – Offiziers.

Die Liebe zu einer jungen Jüdin, die er in einem KZ kennengelernt und in gewisser Weise vor demTode gerettet hat, lässt ihn jedoch nicht los, und so sucht und findet er sie nach seiner Entlassung. Als er sie schließlich gefunden hat und mit ihr in den Westen fliehen will, kann er sie nur dadurch vor den Grenzern retten, indem er sich opfert. Wieder landet er im Gefängnis und wird dort länger bleiben. Denn jeder Ausbruchsversuch, ob erfolgreich oder nicht, bringt ihm weitere Jahre ein. Formánek beschreibt die Hölle der sozialistischen Gefängnisse mit nüchterner Genauigkeit, die seelischen Foltern und physischen Attacken mit fast klinischem Interesse. Wie das große Vorbild Grimmelshausen führt er minütiös alle Grausamkeiten und Demütigungen auf, die Menschen ihresgleichen zufügen können, und sein Protagonist erduldet alles mit stoischem Gleichmut, um seinen Folterern nicht den Triumph eines Zusammenbruches zu gönnen.

Nach fünfundzwanzig Jahren nahezu ununterbrochenen Aufenthalts in Gefängnissen, die an das Mittelalter erinnern, kommt Mares schließlich frei und setzt sich 1969 erfolgreich in den Westen ab. Von diesem Moment an zerfasert die Geschichte ein wenig, was wohl daran liegt, dass der Autor einen wahren Fall aufgegriffen hat. Mares geht durch mehrere Berufe, wird reich, verschenkt das Geld wieder, sucht und findet seine leibliche Mutter – zumindest ihr Grab – und am Ende sogar seine alte Geliebte aus Kriegs- und Gefängniszeiten. Der Ich-Erzähler blickt aus der Perspektive des Jahres 2008 auf die Geschichte seines Helden zurück und muss daher auch die Jahre nach seiner Leidenszeit irgendwie ausfüllen. Da sich Formánek der – literarischen! – Inkonsistenz der letzten vierzig Jahre und die dramatischen Schwächen dieser Zeit im Leben seines Protagonisten offensichtlich bewusst war, bildet er sie sozusagen im Zeitraffer ab, bis er seinen Helden schließlich im Jahr 2008 sterben lassen kann. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt zweifellos in der Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Schrecken Formánek in fast distanzierter Nüchternheit beschreibt. Wie schon erwähnt, erinnert diese – zwar nicht naive aber eher erstaunte – Nüchternheit an Grimmelshausen und Hasek, und Formánek erreicht dadurch eine ähnliche Wirkung wie seine Vorbilder. Als Leser lässt man sich durch die sachliche Schilderung der Quälereien, Schikanen und Demütigungen viel stärker beeindrucken als durch emotional aufgeheizte Entrüstung. Letztere entsteht gerade durch die Nüchternheit der Darstellung wesentlich authentischer im Kopf des Lesers, als wenn ihn ein empörter Autor durch emotionale Anklagen bewusst in einen solchen Zustand versetzen wollte. Das Einzige, was man diesem Buch vielleicht vorwerfen könnte, ist die Tatsache, dass es erst Anfang des 21. Jahrhunderts und nicht in den siebiziger oder achtzigern des 20. Jahrhunderts erschienen ist. Aber das liegt am Alter des Autors, der erst im Jahr der Entlassung seines Romanhelden aus den kommunistischen Gefängnissen zur Welt kam. Da hätte also ein älterer Kollege früher zur Feder greifen müssen; so aber hat Formánek zumindest mit einiger Verspätung dieser dunklen Zeit ein Denkmal gesetzt.

Das Buch „Die Wahrheit sagen“ ist im Gekko-Verlag erschienen, umfasst 480 Seiten und kostet 23 Euro.

Frank Raudszus

 

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