Das Staatstheater Darmstadt serviert beim 8. Sinfoniekonzert ein außergewöhnliche „Performance“ mit Unfallautos und Schuberts „Winterreise“.
Zum Abschluss einer langen Saison lässt man sich gerne ein „Schmankerl“ einfallen. Das sollte im Idealfall sowohl Witz, Originalität als auch hohe Qualität miteinander vereinbaren. Nur Klamauk wäre gerade bei einem Sinfoniekonzert fragwürdig. GMD Will Humburg ist dieses Kunststück mit dem Programm zum 8. und letzten Sinfoniekonzert gelungen. Das „was“ – also das Programm – schien auf keine außergewöhnliche Aufführung zu verweisen, das „wie“ jedoch schon.
Das begann schon mit dem ersten Stück, das bei einem Sinfoniekonzert meist kurz, leicht und oft modern ist. In diesem Fall handelte es sich um das Monodram „Erwartung“ von Arnold Schönberg. Der Komponist schrieb diese Oper – ja, es ist tatsächlich eine Kurzoper! – im Jahr 1909 nach einem spontanen Text der Dichterin Marie Pappenheim. Man könnte sagen, Schönberg habe seine …. gekannt – aber das wäre dann doch ein Kalauer.
Marie Pappenheim verfasste einen geradezu expressionistischen Monolog einer jungen Frau, deren Liebhaber sie verlassen hat und die in depressiven Anwandlungen durch einen metaphorischen(?) Wald wandert. Dabei sieht sie immer wieder fremde, Angst einflößende Gestalten, verirrt sich, zittert vor Angst und verliert sich in Psychosen und Hoffnungen auf eine Rückkehr des Geliebten. Dazu hat Schönberg eine Musik komponiert, die alle herkömmlichen Formen der musikalischen Motive und Themen über Bord wirft und nur die seelische Befindlichkeit der jungen Frau in Musik umsetzt. Musikalische Themen oder gar „schöne“ Melodien sind stets eine Verklärung der Realität und entsprechen höchst selten den inneren Zuständen der Menschen, die sie hören oder gar singen. Der Mensch aus der Sicht des Expressionismus, der 1909 noch in den Startlöchern stand, ist jedoch innerlich zerrissen und alles andere als das Spiegelbild einer gelungenen, in sich geschlossenen und harmonischen Melodie. In Schönbergs Musik kommen denn auch alle Reibungen vor, die man sich vorstellen kann: kleine und große Sekunden, große Septimen, Nonen und anderes mehr. Darüber hinaus setzt er die Instrumente gezielt zur Steigerung der Reibungsklänge ein, etwa, indem er sie an der Grenze ihres Tonbereichs spielen lässt oder ihnen auf andere Weise als gewohnt Klänge entlockt. Die Dynamik passt sich diesen Extremen an und verdeutlicht durch plötzliche Ausbrüche die jeweilige seelische Situation der Frau.
Den Part der jungen Frau hat die russische Sängerin Elena Nebera übernommen, und Regisseur Dirk Schmeding – schließlich benötigt auch eine Mini-Oper eine explizite Regie – hat sich etwas besonderes ausgedacht. Im Gegensatz zum normalen Sinfoniekonzert ist der Vorhang geschlossen und öffnet sich mit einem lauten Knall, der verdächtig an einen Autounfall erinnert und auch noch instrumental unterstützt wird. Dann sieht man ein demoliertes, von Rauch (Disco-Nebel) eingehülltes Auto, aus dem sich singend Elene Nebera zwängt, während im Hintergrund das Orchester zu spielen beginnt. Im Auto sieht man einen blutenden Mann, den Elena Nebera im Laufe der Handlung aus dem Auto zieht und auf den Boden legt. Aus dem schnöden Liebhaber ist also ein Unfallopfer geworden, und wenn man das (mitgelieferte) Libretto studiert, ist diese Lesart zumindest nicht ausgeschlossen, da der Text nur aus Fragmenten einer Verlustklage besteht.
Mit äußerst expressivem Gestus klagt die junge Frau um den Verlust, und die düstere Szenerie wird noch durch einen dunklen, nebligen Wald auf einer Leinwand an der Bühnenrückwand verstärkt. Schmeding setzt also nicht nur auf die Musik sondern auch auf szenische Elemente, und das bekommt der Aufführung gut, da man den Text sowieso nur schwer versteht: einerseits wegen des expressiven Vortrags, andererseits wegen der unzusammenhängenden Satzfetzen. Eine Übertitelung wäre zwar nicht schlecht gewesen, aber die Aussage wird auch durch die szenische Anordnung deutlich.
Der zweite Teil setzt den Gestus des Verlustes konsequent fort, denn jetzt geht es um Franz Schuberts Liederzyklus „Die Winterreise“. Solist ist hier der Tenor Marco Jentzsch, doch die Begleitung liefert nicht der übliche Pianist, sondern das gesamte Orchester in einer Version des zeitgenössischen Komponisten Hans Zender. Ein Klavier verfügt nur über einen begrenzten Klangraum, und daher steht in den üblichen Aufführungen der Sänger im Mittelpunkt. Hier jedoch verfügt der Komponist – und der Dirigent – über einen komplexen Klangkörper, der die seelische Befindlichkeit des jeweiligen Liedes weit differenzierter als ein Klavier musikalisch verdeutlichen kann. Hans Zender verleiht jedem Lied seine eigene klangliche Aura, wobei die Schubertsche Grundlage jedoch stets beibehalten wird, beginnend beim „Gute Nacht“ („Fremd bin ich eingezogen…“) und endend beim „Leiermann“. Auch gönnt Zender dank des wesentlich variableren Klangkörpers dem Orchester mehr „Eigenzeit“ in Gestalt von Zwischen- und Nachspielen. Dadurch gewinnt der gesamte Zyklus an Eindringlichkeit und Ausdruckskraft. Auch der Gesangssolist wird in diese Aufführungspraxis hineingezogen. In einigen Liedern greift er zum Mikrophon und trägt den Text teilweise als Sprechgesang – fast wie ein Rapper – vor, während das Orchester das Liedthema übernimmt, allerdings deutlich variiert. Dann klingt die Musik kurzfristig fast wie ein Rockkonzert, bis Jentzsch jäh zurückfällt in den Gesangsvortrag und dabei das Mikrophon weglegt.
Das ziellose Wandern ist Grundthema der „Winterreise“, Getriebensein vom Unglück der Welt, das sich für den Sänger als Liebesleid manifestiert. In dieser Version der „Winterreise“ erheben sich mitten im Vortrag einzelne Orchestermitglieder von ihren Plätzen und verlassen gemessenen Schrittes die Bühne. Man fühlt sich spontan an Haydns „Abschiedssinfonie“ erinnert, und vielleicht ist das auch als humoristisches Augenzwinkern des GMD nach einer langen Saison zu verstehen. Doch die Musiker gehen nicht in die Kantine, sondern sie spielen ihren jeweiligen Part von verschiedenen Stellen im Zuschauerraum oder andernorts neben der Bühne. Das sorgt natürlich für einen besonderen Raumklang und ein Gefühl der Weite, wie sie der einsame Wanderer empfinden mag. Und die besondere Kunst besteht darin, dass die wandernden Musiker nicht nur das Spiel des „Restorchesters“ nicht stören, sondern durch ihr stilles Wandern den Eindruck der Rastlosigkeit dieses Liederzyklus´noch verstärken. Bei den letzten Liedern verharrt nur noch der Kern, bestehend aus den Streichern und dem Dirigenten, auf den angestammten Orchesterplätzen und leistet dem Sänger musikalisch Gesellschaft. Dieser besingt im letzten Lied den einsamen Leiermann, dessen Teller trotz steten Leierns leer bleibt. Es hieße die Metaphorik zu überdehnen, wollte man den Leiermann mit dem Orchester assoziieren, doch ein wenig spielen die Streicher am Schluss eben diese Rolle: trotz Aussichtslosigkeit noch bis zum letzten Ton weiterspielen. Am Ende verlässt auch der Sänger langsamen Schritts die Bühne, und die Streicher führen zusammen mit dem Dirigenten das letzte Lied und damit den Zyklus zum Ende.
Bewusst ließ Will Humburg die Hand nach den letzten leisen Tönen in der Luft hängen, damit das verfrühte Einsetzen des Schlussbeifalls verhindernd. So war das Publikum gezwungen, noch lange Sekunden zu verharren und den Eindruck der Aufführung nachwirken zu lassen, ehe sich schließlich die Hände hoben zum Applaus. Dieser fiel dann einhellig und begeistert aus, und rundherum verfestigte sich der Eindruck, einen außergewöhnlichen sinfonischen Saisonabschluss erlebt zu haben.
Frank Raudszus
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