Die Frankfurter „Kunsthalle Schirn“ präsentiert in der Ausstellung „Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900“ eine weitgehend unbekannte künstlerische Episode.
Der Holzschnitt gilt allgemein als Technik des ausgehenden Mittelalter, die wegen ihrer technischen Schwächen bald durch den Kupferstich und die Kaltnadelradierungen abgelöst wurde. Durch die verschiedenen Jahrhunderte nach der Dürer-Zeit fristete diese Technik daher ein Schattendasein und fiel sozusagen der Ölmalerei und den oben genannten Verfahren zum Opfer. So fiel es der internationalen Kunstwelt auch nicht weiter auf, als um die vorletzte Jahrhundertwende, also um 1900, eine Gruppe Wiener Künstler diese Technik aus einer neuen Perspektive neu entdeckte.
Ausgangspunkt dieser kurzen Epoche – sie währte nur gut zehn Jahre – war die Erkenntnis, dass sich die darstellende Kunst zu einer Kunst der Eliten entwickelt hatte. Der auratische Charakter des Originals hatte mittlerweile zu einem weltweiten Kunstmarkt mit entsprechenden Preisen geführt, und die teuren Gemälde hingen in betuchten Bürgerhäusern oder Museen, den Tempeln der Hochkultur. Da es die Technik der hochwertigen Farbdrucke – neudeutsch „Poster“ – noch nicht gab, musste das „einfache Volk“ aus Kostengründen auf Kunst verzichten. Wie viele – oder gar die meisten? – Künstler dachten auch die Mitglieder dieser losen Wiener Gruppe durchaus in gesellschaftlichen Kategorien, die vor allem soziale Gerechtigkeit zum Gegenstand hatten. So lag es nahe, einen Weg zu suchen, die Kunst wieder zum Volk zu bringen.
Der Slogan „Kunst für alle“ birgt dabei einen uneingestandenen und ungewollten Widerspruch in sich: Kunst ist „per se“ elitär, indem sich der Künstler bewusst außerhalb des Alltags stellt und die Welt von außen betrachtet. Gerade der nicht auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete Künstler, also der Idealist, verachtet und verneint die „Zwänge des Alltags“ und will sie aufbrechen hin zu einer besseren Gesellschaft. Damit gehört er sozusagen zwangsläufig zu einer Elite, auch wenn diese sich nicht durch materielle Privilegien auszeichnen muss. Das sogenannte „einfache Volk“ kann sich diesen Gestus jedoch meist nicht leisten, einerseits, weil die künstlerische Begabung fehlt, andererseits, weil die Erhaltung der eigenen Existenz und der Familie im Vordergrund steht. Mit einem abgewandelten Brecht-Zitat könnte man sagen: „Erst kommt das Fressen, dann die Kunst“.
Insofern war natürlich die Aktion der Wiener Künstler, als „Kunst für das Volk“ gedacht, doch wieder eine für die Eliten, das heißt für die anderen Künstler und Kunstkritiker wie -sammler. Und auch die Ausstellung der Schirn wird nicht die Adressaten des Mottos „Kunst für alle“ anziehen, sondern wiederum die Kunstkenner und -liebhaber.
Über zweihundert Holzschnitte und Werke in verwandten Techniken sind den Räumen der Schirn zu sehen. Dabei steht der Farbholzschnitt im Mittelpunkt. Wenn man allerdings bedenkt, welchen Aufwand ein komplexer Farbholzschnitt erfordert – teilweise müssen fünf bis sechs verschiedene Platten geschnitzt und später nacheinander auf das Papier gebracht werden -, dann kann man sich nicht vorstellen, dass die Drucke sehr preisgünstig waren. Falls überhaupt ein „freier Verkaufsmarkt“ dafür bestand. Ganz abgesehen davon, dass sich der bekannte Druckverschleiß der Holzschnitte bei den komplizierten Farbkombinationen schneller als bei einem einfachen Schwarzweiß-Holzschnitt bemerkbar machen musste.
Doch für den heutigen Betrachter bietet diese Ausstellung einen faszinierenden Einblick in eine kurze Epoche, die mit Jugendstil und „Art Déco“ begann, dann aber – vielleicht sogar bedingt durch die Technik und die flächigen Farben – bald geradezu expressionistische Züge annahm. Vieles von dem, was man erst in den zwanziger Jahren von Max Beckmann oder Ernst Ludwig Kirchner kennt, nehmen die meist unbekannten Künstler dieser ephemeren Epoche vorweg. Es lohnt sich also unbedingt, dieser Ausstellung einen Besuch abzustatten.
Die Ausstellung ist vom 6. Juli bis zum 3. Oktober 2016 geöffnet. Öffnungszeiten und weitere Details sind der Webseite der Schirn zu entnehmen.
Frank Raudszus
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