Beim Rheingau-Musik-Festival unternimmt der Countertenor Philippe Jaroussky mit dem Ensemble Artaserse einen künstlerischen Gang durch die Barockoper.
Knabenchöre waren schon im Mittelalter bekannt für ihre einmalig schönen Stimmen. Daher wurde früher so mancher Knabe verstümmelt, um auch als Erwachsener die schöne Stimme zu behalten und den höfischen Auftraggebern einen Kunstgenuss zu verschaffen. Diese Variante existiert heute aus nahe liegenden Gründen – glücklicherweise – nicht mehr, doch die Kunst, als Mann mit einer Sopranstimme zu singen, hat sich, dank spezieller Ausbildung, auch ohne medizinischen Eingriff gehalten. Der Countertenor verfügt über eine Stimme, die der früherer Kastraten ähnelt, doch in ihrer Einzigartigkeit nicht mit dem weiblichen Sopran zu vergleichen ist. Seine Stimme besitzt eine ganz eigene, geradezu entrückte Aura, die sich vor allem für die Interpretation barocker Opern eignet.
Vor allem die Opern des frühen Barock sind gesättigt von einer ganz eigenen Mischung aus Gottesfurcht, Demut, Verzweiflung und Klage. Man kann das wohl zurückführen auf die gesellschaftlichen Umbrüche, die im Zuge der frühen Neuzeit auf die Menschen zukamen. Die einheitliche Welt der autoritären mittelalterlichen Kirche war untergegangen, und statt ihrer vermeintlichen Gewissheiten waren Zerrissenheit und – durch Reformation und Glaubenskriege – religiöse Unsicherheit eingezogen. Auch wenn die Opern dieser Zeit sich aus Gründen der Zensur vornehmlich mit mythologischen oder historischen Themen beschäftigten, brachten sie alle die Klage über die aus den Fugen gegangene Welt zum Ausdruck. Daher der klagende Grundtenor der frühen Barockopern; die späte Barockmusik bringt dann schon wesentlich mehr Lebensfreude ins Spiel.
Das „Ensemble Artaserse“ besteht aus zwölf Musikern, die überwiegend auf historischen Instrumenten spielen. Neben der zeitlosen Violine zählen dazu die Viola da Gamba, die Laute, die Lirone und natürlich das Cembalo und die Harfe. Mit dieser instrumentalen Konfiguration restauriert das Ensemble den Klang der Barockzeit, soweit das ohne akustische Konserven möglich ist. Philippe Jaroussky, einer der renommiertesten Countertenöre der Gegenwart, hat für das Rheingau-Musik-Festival zusammen mit dem Ensemble Artaserse Auszüge aus einer Reihe von Opern des 17. Jahrhunderts einstudiert, die am 14. Juli – „quatorze juillet“! – in der Basilika des Klosters Eberbach zu hören waren. Die Basilika war wieder einmal so gut wie ausverkauft, denn sowohl das Ensemble als auch der Solist hatten einen langen Schatten des Renommés geworfen.
Zu Gehör kamen Opern von Pietro Antonio Cesti, Francesco Cavalli, Luigi Rossi, Giovanni Legrenzi, Agostini Steffani sowie Claudio Monteverdi, des wohl bekanntesten barocken Opernkomponisten. All diesen Musikern ist ihre Verankerung im 17. Jahrhundert gemein, wobei Monteverdi – mit Lebenswurzeln im 16. Jahrhundert – der älteste und Steffani – mit dem Todesjahr 1728 – der jüngste ist. Daneben standen zur Auflockerung und zwecks Erholung des Solosängers einige Instrumentalkompositionen der Barock-Komponisten Giovanni Antonio Pandolfi Mealli, Marco Uccellini und Biagio Marini auf dem Programm.
Die vorgetragenen Opernarien decken alle Facetten des menschlichen Lebens ab. Da wird die Liebe besungen, Sonne und Mond angebetet; die unglückliche Liebe findet in herzzerreißender Weise ihren musikalischen Platz, und auch der militärische Kampfesmut, den Trägheit fördernden Frieden verachtend, kommt in einer langen Arie von Cavalli zu Wort. Als Pendant dazu beklagt Legrenzi in „O del Cielo ingiunta legge!“ das mörderische Geschäft des Krieges, während Rossis „M´uccidete…“ wieder die unerreichbare Geliebte besingt. Es gibt in diesen Arien also genügend zu feiern und zu klagen; tiefe Trauer und überschäumende Freude reichen sich die Hand, und gesellschaftliche Konflikte finden in diesen – entweder von höfischen Auftraggebern beauftragten oder von Zensoren argwöhnisch beäugten – Werken keinen Widerhall.
Doch mit den privaten menschlichen Freuden und Sorgen lassen sich mehr Emotionen wecken als mit politischer Kritik, und diese Gefühlslagen prägen alle vorgetragenen Arien. Philippe Jaroussky verlieh den Rezitativen und Arien eine breite Vielfalt unterschiedlicher Emotionen, und die von der Alltagsstimme deutlich abgehobene Countertenor-Lage verstärkt die intensive Wirkung noch, weil sie in gewisser Weise eine Ausnahmesituation kreiiert oder zumindest beschreibt. Eine Stimmlage jenseits der Alltagssprache – oder des normalen Gesangs – vermittelt fast zwangsläufig den Eindruck einer existenziellen Situation. Doch Jaroussky glänzte nicht nur mit einer strahlenden und in jeder Lage mühelosen Stimme, er verlieh auch lyrischen Stimmungen überzeugenden Ausdruck, wenn er etwa einen Schlusston extrem lange und leise – und doch volltönend! – ausklingen ließ. Dann wieder kam der kämpferische Geist mit den für die Barockoper typischen, fast verzweifelten Ausbrüchen zum Vorschein. Oder die Entsagung machte sich in langsam absteigenden und dann versiegenden Tonfolgen bemerkbar. Philippe Jaroussky verfügt tatsächlich über eine erstaunlich breites Repertoire stimmlicher Ausdruckskraft, und wer geglaubt hatte, Countertenöre würden stets nur hoch und laut singen, sah sich hier eines Besseren belehrt.
Das „Ensemble Artaserse“ beschränkte sich nicht auf eine historisch authentische Begleitung, sondern servierte sozusagen „nebenbei“ ein eigenes Konzert, bei dem vor allem das virtuose Violinsolo von Giovanni Antonio Pandolfi Mealli, vorgetragen von Allessandro Tampieri, beeindruckte. Doch auch die anderen Instrumentaleinschübe brachten den Geist der frühen Barockmusik auf lebendige Weise zum Ausdruck. Ensemble und Solist schafften es in diesen zwei Stunden, das Publikum in eine andere Zeit zu versetzen und ein Gefühl für die Nöte, Hoffnungen und Sehnsüchte dieser Epoche zu entwickeln.
Das Publikum zeigte am Ende seine Begeisterung durch viel Beifall, und Philippe Jaroussky und das Ensemble Artaserse bedankten sich ihrerseits mit drei Zugaben, die den Eindruck des Konzerts noch einmal aufleben ließen.
Frank Raudszus
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