Wider die Erwartungshaltung

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Das Staatstheater Darmstadt bringt eine Neuinszenierung von George Bizets Oper „Carmen“.

Manche Opern haben sich zu solchen „Repertoire-Rennern“ entwickeln, dass Arien und Erkennungsmelodien bereits zu eigenständigen Versatzstücken des musikalischen Alltags geronnen sind, die kaum noch eine direkte Assoziation zum Stoff der jeweiligen Oper wecken. Zu diesen Opern gehört sicherlich George Bizets „Carmen“, und jeder Regisseur, der diesen Stoff auf die Bühne bringen will, ist gut beraten, in sich zu gehen, um neue Sichtweisen zu eröffnen. Denn stets lauert die Gefahr, im bloß Folkloristischen zu verharren und die Erwartungshaltung eines Abonnementspublikums zu erfüllen, das ein „authentisches“ – weil spanisches – Bühnenbild sowie ebenso authentische historische Kostüme erwartet.

Chor

Tamara Gura, Chor

Die letzten Inszenierungen der „Carmen“ in Darmstadt stammten 2010 von Mei Hong Lin, der damaligien TanzTheater-Leiterin, und davor im Jahr 1999 von dem Filmregisseur Werner Schroeter. So lag es also nahe, dieser Oper wieder einmal eine Neu-Inszenierung in Darmstadt zu gönnen.

Die Regisseurin Sandra Leupold hat durchaus in dem oben erwähnten Sinn nachgedacht und ist dabei auf die Idee gekommen, die Schauspieler aktiv in das Regiekonzept einzubinden. Dabei ist herausgekommen, dass man dieses Stück eigentlich nur noch mit einer gewissen distanzierenden Ironie aufführen kann, da eine – wie immer  geartete – „Authentizität“ des frühen 19. Jahrhunderts vor allem angesichts der Bekanntheit der Oper und der Erwartungshaltung des Publikums nicht mehr glaubwürdig herzustellen ist. Diese Distanz stellt die Regisseurin – in Zusammenarbeit mit den Darstellern – durch eine zweite Ebene her. Sie erzählt nicht die Geschichte einer „femme fatale“, die die Männer reihenweise an sich zieht und dann fallen lässt, sondern deren Inszenierung durch ein Opernensemble, das als solches permanent auf der Bühne anwesend ist.

Tamara Gura, Chor

Tamara Gura, Chor

Dazu hat Stefan Heinrichs konsequent ein Bühnenbild geschaffen, das eher an eine geräumige Probebühne als an ein spanisches Dorf des 19. Jahrhunderts erinnert. Im Rückraum der Bühne erkennt man so etwas wie eine kleine Bühnenkantine mit Tischen und Stühlen, rechts eine Garderobe mit Heizkörpern und Kostümen, und an der Rückwand bedeckt ein großer Vorhang einen Spiegel, der wohl für die Proben der Tänzer gedacht ist, aber auch für die Spiegelung der Bühnenhandlung genutzt werden kann. Vom Kollateralschaden dieses Vorhangs wird noch zu reden sein.

Wie bei einer Probebühne üblich, gibt es keinen großen Vorhang. Auf der offenen Bühne sitzt das Ensemble in Jeans und T-Shirts am Bühnenrand auf billigen Bürostühlen, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme verschränkt, oder eine Zeitung lesend. Dann, mitten in den noch erleuchteten Zuschauersaal, erfolgt messerscharf der erste Schlag der Ouvertüre, und ebenso schlagartig erlischt das Licht. Kein langsames Dimmen über einem alten spanischen Dorf, keine falsche Romantik. Im Laufe der von Will Humburg so federnd wie detailfreudig dirigierten Ouvertüre begeben sich die Darsteller langsam zum Kostümständer oder ziehen hinter dem Rücken eine Jacke hervor, die das historische Ambiente verleihen soll. Da trägt man dann als einfacher Soldat den Uniformrock über den Jeans, und nur der Offizier zwängt sich in hohe Stiefel und setzt sich den Autoritätshut auf. Die Frauen der Tabakfabrik kommen in heutiger Alltagskleidung aus verschiedenen Türen und nehmen eben die Stellungen ein, die heutige junge Frauen in einer Arbeitspause bevorzugen würden – nur auf die Smartphones verzichten sie. Später wird Carmen alias Tamara Gura mit Bluse und Jeans erscheinen und zwecks Erkennung ein rot-schwarz gestreiftes Kleid über dem Arm tragen, das sie für ihren späteren Einsatz benötigt. Mickael Spadaccini tritt als er selbst auf, und nur Libretto-Kundige erkennen, dass es sich bei ihm um Don José handelt.

Minseok Kim, Jana Baumeister, David Pichlmaier, Tamara Gura, Amira Elmadfa

Minseok Kim, Jana Baumeister, David Pichlmaier, Tamara Gura, Amira Elmadfa

Dieses Konzept hält die Regie bis zum Schluss durch. Immer wieder ziehen die Darsteller ihr jeweiliges Kostüm erst unmittelbar vor dem Auftritt an oder entledigen sich seiner nach dem Auftritt, so Tamara Gura, wenn sie nach einer Szene buchstäblich aus dem „authentischen“ spanischen (Flamenco-)Kleid steigt und in Jeans die Bühne verlässt. Die Distanz dieses Regiekonzepts hat bei allem Verständnis für die Intention seine Nachteile. Neben der – beabsichtigten – Desillusionierung des Publikums verlängern diese Kostümwechsel tendenziell die Szenen, was die Gefahr von Längen impliziert, vor allem bei oftmaliger Wiederholung. Denn der „Gag“ verbraucht sich schnell. Die Regie begegnet dieser Gefahr unter anderem dadurch, dass sie die Handlung während der Zwischenmusiken weiter laufen lässt: man unterhält sich, wechselt die Kostüme oder vertreibt sich die Zeit eben so, wie es Schauspieler tun, die auf ihren Einsatz warten. Umbauten des Bühnenbildes gibt es ja nicht, und der Zuschauer betrachtet während der Zwischenmusik halt nicht einen geschlossenen Vorhang, sondern das handlungslose Geschehen auf der Bühne.

Die Regie unterläuft die Erwartungshaltung des Publikums auf eine „schmissig-authentisch-spanische“ Inszenierung noch durch ein weiteres Regiemittel. Statt wie manch andere Inszenierung das Geschehen um die wichtigsten Szenen (und Arien!) herum zu verdichten und damit einen temporeichen Potpourri bekannter Melodien zu bieten, kostet diese Inszenierung das Libretto in voller Länge aus. Auch unwesentliche Szenen werden detailliert ausgespielt, sei es nun Carmens Verhaftung und Flucht, die Schmugglerszene oder die finale Auseinandersetzung zwischen Carmen und Don José. Durch diese Betonung auch nebensächlicher Handlungselemente verschiebt sich die Bedeutung der zentralen, ach so bekannten Gesangsnummern und lässt diese Momente nicht mehr so erstrahlen. Diese Wirkung ist zwar beabsichtigt und soll vor allem den erzählerischen Charakter verstärken, unterläuft jedoch die Erwartung des Publikums. In der „Carmen“ sehen halt die wenigsten Zuschauer eine epische Erzählung um eine emanzipierte junge Frau und eine Männerwelt mit ihrem apodiktischen Anspruch auf sie, sondern ein Drama um Liebe, Eifersucht und Rache.

Susanne Serfling

Susanne Serfling

Sandra Leupold will jedoch gerade diese epischen Aspekte in den Vordergrund rücken. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob Bizet das beabsichtigt hat oder ob das Libretto die epische Fülle enthält, die hier vorzuführen wäre. Letzteres darf man bezweifeln, und das führt dann auch zu gewissen Längen und auch zu statischen Effekten. Das Regiekonzept verstärkt diese Wirkung auch noch – ungewollt(?) -, indem es einen Teil der berühmten Gesangsnummern nicht nur in den Bühnenhintergrund verlegt sondern auch bewusst in der Präsentation herunterspielt. Man gewinnt den Eindruck, dass die Sänger auf keinen Fall ins „Schmettern“ verfallen dürfen. Eine bei einer „Carmen“-Inszenierung durchaus verständliche Vorgehensweise, die aber auch leicht danebengehen kann, wenn etwa Dmitry Lavrov den ersten Auftritt des Toreros Escamillo fast schon als Karikatur präsentiert. Optisch und auch stimmlich wirkt er eher wie der fragwürdigen Arzt in der Opera Buffa, der falsche Tinkturen anbietet, denn als gefeierter Torero. Dazu kommt, dass Lavrovs Bass an diesem Abend nicht sehr präsent war. Und wenn Tamara Gura ihr erstes großes „Carmen“-Solo im Hintergrund der Bühne vorträgt, verschluckt der dichte Vorhang vor dem besagten Spiegel einen Teil ihrer Stimme. Dieser Effekt tritt öfter auf: die selben Sänger wirken vorne präsent und stimmlich stark, weiter hinten seltsam verhalten, ja fast wirkungslos.

Dagegen wirkt die Schmugglerszene als erfrischendes Intermezzo, denn David Pichlamaier und Minseok Kim ziehen eine wahre Slapstick-Show ausgebuffter Gauner ab, wobei Pichlmaier – humpelnd und mit Krücke – mit einer total verrauchten Stimme noch einen draufsetzt. Bis zum Schluss werden die beiden – zusammen mit Jana Baumeister und Amira Elmadfa als Schmugglerbräute – das Bühnengeschehen mit viel Tempo aufmischen. Dagegen wird die letzte Szene seltsam statisch angelegt: Die Regie setzt Carmen auf einen Stuhl an der Bühnenrampe und lässt sie wie auf einem Präsentierteller auf den Tod warten, der in Gestalt von Don José schließlich nach mehreren verbalen Anläufen auch kommt. Diese Szene birgt fast schon eine ungewollte Komik in sich. Hier hätte man mit einer besseren Personenregie mehr bewirken können, wenn auch die Absicht darin bestanden haben mag, diese Szene nicht zum dramatischen Kitsch hoch zu stilisieren, sondern Carmens Opferrolle durch stilles Sitzen und eine „Hinterrücks-Ermordung“ zu verdeutlichen. Leider verliert diese Schlussszene dadurch an Dichte.

Tamara Gura, Mickael Spadaccini

Tamara Gura, Mickael Spadaccini

Überhaupt spielt Tamara Gura die Carmen zu passiv, abgesehen von einigen verbalen Ausbrüchen mit dazugehöriger Körpersprache. In anderen Szenen jedoch beschränken sich ihr unbändiger Freiheitsdrang und ihre kompromisslose Erotik auf den gesungenen Text. Man muss nicht pseudo-dramatisch mit den Augen funkeln und die Arme in die Hüfte stemmen, um diesen Charakter glaubwürdig wiederzugeben, aber etwas davon sollte schon durchgehend zu spüren sein.

Dagegen liefert Susanne Serfling – ehemaliges Ensemblemitglied – als Micaëla sowohl darstellerisch als auch sängerisch eine überzeugende Partie ab. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass sie in eben dieser Rolle bereits vor sechs Jahren geglänzt hat und es dem ehemaligen Arbeitgeber noch einmal zeigen wollte. Sie sowie David Pichlmaier und Minseok Kim ernteten denn auch am Schluss den meisten Beifall. Michael Spadacci füllt die Rolle des Don José sowohl stimmlich als auch darstellerisch gut aus. Vor allem in der finalen Szene geht er aus sich heraus und zeigt sein ganzes Können.

Eine besondere Erwähnung hat auch der von Thomas Eitler-de Lint einstudierte Chor verdient, der hier in vielfältiger Gestalt – Dorfbewohner, Soldaten, Schmuggler – auftritt, für viel Bewegung auf der Bühne sorgt und damit einige Längen gut überbrückt. Der Kinderchor bringt zusätzliche Frische in das Spiel, da die Kinder noch mit natürlicher Begeisterung dabei sind und dabei auch präzise singen.

Ein besonderes Lob gilt dem Orchester unter der Leitung von Will Humburg. Man kann durchaus die Behauptung aufstellen, dass dies eine Inszenierung der Musik ist. Die Länge dieser Inszenierung bietet die Gelegenheit, viele Feinheiten der Musik abseits der großen „Nummern“ auszuleuchten, und Will Humburg nutzt diese Gelegenheiten konsequent. Jedes Zwischenspiel und jede Begleitfigur werden mit einer Sorgfalt und einem Sinn fürs Detail ausgearbeitet, dass es eine wahre Freude ist, diesem Orchester zuzuhören. Man lernt dabei – neben dem „Auf in den Kampf“-Thema – ganz neue musikalische Seiten dieser Oper kennen, die in anderen Inszenierungen entweder wegfallen oder verkürzt dargeboten werden. Da stimmten alle Klangfarben, nicht nur das kräftige Blech der Fanfaren.

Der Schlussbeifall, anfangs etwas gebremst, galt den Sängern – vor allem Susanne Serfling und David Pichlmaier – und dem Orchester. Dagegen musste die Regie einige Buhs aus dem Zentrum des Zuschauerraums erdulden. Sicher waren diese auf das Unterlaufen liebgewordener Erwartungshaltungen zurückzuführen, aber ein wenig waren sie auch durch das nicht ganz durchdachte Regiekonzept verursacht, das zu einem teilweise statischen Ablauf und einigen Längen führte.

Frank Raudszus

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