Das 7. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt serviert Erik Satie, Maurice Ravel und Modest Mussorgski.
Die Fülle der Klangfarben und -flächen stand im Mittelpunkt des sinfonischen Programms am 12. und 13. Juni 2016. Dazu hatte GMD Will Humburg, der auch selbst am Pult stand, eine breite musikalische Palette von der zweiten Hälfte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zusammengestellt, ein Zeitraum, der für geradezu umwälzende Neuerungen in der Musik steht.
Am Beginn stand Erik Saties Ballettmusik „Parade“, die im Jahr 1917 einen mittleren Theaterskandal auslöste. Die Choreographie des damals noch nicht dreißigjährigen Jean Cocteau und das Bühnenbild des nur wenige Jahre älteren Pablo Picasso brachen mit allen konventionellen Mustern, und Erik Saties Musik setzte den provokanten „i-Punkt“ dazu. Der Autodidakt Satie verstand sich selbst nicht als Musiker sondern als „Geräuschexperten“, der vor allem Alltagsgeräusche in seine Kompositionen einbaute. Und so findet man in der Instrumentierung dieser Ballettmusik auch eine Reihe kurioser Geräuschquellen, die man schwerlich mit dem Begriff „Musikinstrument“ belegen kann. Dazu gehört ein Wassereimer, in den der Perkussionist rhythmisch hinein patscht, ebenso wie ein knatterndes Windrad, wie man es etwa in Schrebergärten sieht, hängende Flaschen mit unterschiedlichen Stimmungen, Sirenen und – als Höhepunkt – sogar einen Pistole mit Platzpatronen. Doch auch die zahlreich vertretenen „normalen“ Instrumente sorgten für schräge Klänge, denn in diesem Ballett geht es schließlich um ein eher peripher-kulturelles Thema: den Versuch reisender Varieté-Künstler, Besucher mit allen Mitteln in ihre Zelte zu locken. Die Musik intoniert dabei die bizarren Vorführungen eines chinesischen Gauklers, eines amerikanischen (Cowboy-)Managers, eines Akrobatenpaares und eines amerikanischen Mädchens, das eine wahre Odyssee erlebt. Auch ohne szenische Darstellung werden die erzählten Episoden durch die grotesken musikalischen Miniaturen buchstäblich lebendig, und man sieht die einzelnen Figuren im Geiste geradezu verzweifelt um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen, wobei die Klangkombinationen nicht eine irgendwie geartete „Schönheit“ der Kunst, speziell der Musik, widerspiegeln, sondern das grelle Ambiente eines Vorstadt-Varietés und den täglichen Kampf der Künstler ums Überleben. Versetzte Rhythmen, die schon die frühe amerikanische Jazz-Musik imitieren, ungewohnte harmonische Weiterungen und neue Instrumente – neben den oben genannten Geräuschquellen – wie das Saxophon prägen diese Musik. Was man heute als Musik des frühen 20. Jahrhunderts gelassen und interessiert rezipiert, gab bei der Uraufführung im Jahr 1917 Anlass zu heftigen Protesten des Publikums. Dem Orchester und seinem Dirigenten bereitete es offensichtlich viel Spaß, diese kontrastreiche Musik mit geschärftem Profil vorzutragen und auf jegliche Glättung zu verzichten. Das Publikum honorierte diesen deftigen Auftakt nicht nur mit viel Beifall sondern auch mit eingestreuten Lachern für unerwartete Klangeffekte.
Im Zentrum des Konzerts stand Maurice Ravels Klavierkonzert in G-Dur, das er selbst im Jahre 1932 bei der Uraufführung dirigierte, allerdings krankheitshalber nicht vom Klavier. In Darmstadt brillierte die junge Französin Lise de la Salle, die hier die Gelegenheit nutzte, ihre virtuosen Fähigkeiten zu zeigen. Ravel hat sein Klavierkonzert als „einfach“ bezeichnet, kann damit aber nur die musikalische Aussage gemeint haben, denn technisch stellt es mit seinen atemberaubenden Läufen und permanent changierenden Klangflächen die höchsten Anforderungen. Das Stück beginnt nach einem kurzen Schlag des Perkussionisten mit einer laufartigen Klangfläche des Klavier, dem sich das Orchester mit dem eingängigen Motiv des ersten Satzes und einige Bläser anschließen. Anschließend führt das Klavier durch verschiedene elegischen Motive, die immer wieder von klanglichen Ausbrüchen oder Kommentaren des Orchesters abgelöst, unterbrochen oder überlagert werden. Daraus befreit sich das Klavier mit schillernden Klangflächen, die durch die gesamte Klaviatur laufen, dann wieder von nachdenklichen Passagen abgelöst werden. Seltsam entrückte, somnambule Themen wechseln sich mit clusterartigen Ausbrüchen ab, und immer wieder prägen die weit ausladenden Klangflächen gebrochener und in Läufe aufgelöster Akkorde das musikalische Gesamtbild, bis er Satz in einem absteigenden Akkordfolge endet.
Der zweite Satz besteht weitgehend aus einem Klaviersolo, das sich als lyrisch-introvertiertes „Lied ohne Worte“ präsentiert, und dem das Orchester lange Zeit mit gesenkten Instrumenten nur zuhört. Erst spät setzen die Streicher ein und danach einige Holzbläser, doch das Klavier bleibt stets im Mittelpunkt. Hier konnte die Solistin ihr Interpretationskunst im lyrischen Fach voll zum Tragen bringen, und sie tat das mit viel Gespür für die feinen Facetten dieser Musik, ohne deshalb in falsche Sentimentalität zu verfallen. Der dritte Satz führt mit seinen schnellen Läufen und changierenden Klangflächen in gewisser Weise zum ersten zurück, nimmt auch teilweise dessen Motive wieder auf. Hohes Tempo und höchste technische Anforderungen prägen diesen Satz, in dem auch die Blechbläser mit fanfarenartigen Einwürfen noch einmal glänzen dürfen. Nach einer finalen dynamischen Steigerung endet das Konzert schließlich mit vier kräftigen Akkorden. Die Pianistin absolvierte dieses Konzert mit einer solchen Souveränität und technischen Perfektion, dass der Beifall des Publikums – und auch des Orchesters – nicht enden wollte. Sie spielte dann als Zugabe noch ein Prélude von Claude Débussy.
Den Abschluss bildete Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“, für Orchester instrumentiert von Maurice Ravel. Hier schloss sich schließlich der Kreis, denn auch diese Komposition erzählt wie die von Erik Satie Geschichten, indem sie die Bilder des Künstlers Viktor Hartmann in einer zu seinen Ehren veranstalteten Ausstellung musikalisch beschreibt. Eine mit „Promenade“ bezeichnete Zwischenmusik verweist implizit auf Saties „Parade“ und verbindet gleichzeitig als Gang durch die Ausstellung die einzelnen Bilder, etwa den „Gnom“ oder „Das alte Schloss“, „den reichen und den armen Juden“, die „Katakomben von Paris“ oder – abschließend – „Das große Tor von Kiew“. Jedem dieser zehn Exponate verleiht Mussorgski eine ganz eigene Klangfärbung, und Ravel hat diese Klangfarben überzeugend orchestriert. Es ist sozusagen „Programmmusik“ der besseren Art. Man sieht förmlich die einzelnen Szenen der Bilder vor sich, zum Leben erweckt von Komponist und orchestralem Arrangeur.
GMD Will Humburg holte die letzten Feinheiten Ravelschen Klangrausches aus dieser Komposition heraus und trieb sein Orchester dabei zu Höchstleistungen. Man hatte das Gefühl, dass er keinen einzigen Takt nur „herunterspielen“ wollte, sondern jede Phrase und jedes Klangereignis buchstäblich auskosten wollte. Dabei ist die hohe Transparenz hervorzuheben, die er trotz der streckenweise expressiven Dynamik nie verlor. Mit vollem Körpereinsatz kroch er förmlich in einzelne Instrumentengruppen hinein, um ihnen einen Klangeffekt buchstäblich aufzuzwingen, und das Orchester folgte ihm mit hoher Aufmerksamkeit und Konzentration. Trotz der von Bild zu Bild sich ändernden harmonischen, rhythmischen und klanglichen Effekte hielt Humburg den Spannungsbogen bis zum finalen „Tor von Kiew“ aufrecht und ließ in diesem letzten Bild das gesamte Orchesters sich zu einer Apotheose der Musik steigern, die dann nach einigen vermeintlichen Schlussakkorden und unerwarteten Fermaten schließlich im letzten großen Akkord kulminierte.
Das Publikum zeigte sich begeistert und dankte dem Orchester und seinem Dirigenten mit lang anhaltendem, kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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