Das Frankfurter Städelmuseum zeigt in der Ausstellung „Schaufenster des Himmels“ den Altenberger Altar.
Das kleine Städtchen Altenberg liegt westlich von Wetzlar an der Lahn. Es wäre wegen seiner geringen Größe keiner besonderen Erwähnung wert, wenn ihm nicht das nahe Kloster eine überregionale historische Bedeutung verleihen würde. Denn dieses „Prämonstratenserinnen“-Kloster beherbergt den berühmten „Altenberger Altar“ aus dem 13. Jahrhundert, der sich – zumindest teilweise – im Besitz des Städelmuseums befindet.
Der Altar besteht aus einem Mittelteil mit einer Marienstatue sowie zwei – ursprünglich faltbaren – Seitenflügeln. Der Mittelteil beherbergt zusätzlich freie Fächer, in denen an hohen Festtagen besondere Reliquien ausgestellt wurden: die Seitenflügel tragen Bilder aus dem Marienleben. Darüber hinaus verfügte das Kloster über kunstvolle Altardecken, die an hohen Festtagen den Altar schmückten. Weiterhin zeigten verschiedene Wandbehänge Szenen aus dem Leben der Heiligen Elisabeth, die ihre Tochter Gertrud im Alter von zwei Jahren an das Kloster übergab. Gertrud übernahm mit 21 Jahren die Leitung des Klosters und machte es zu einer Stätte der Verehrung ihrer mittlerweile gestorbenen Mutter.
Alle der in dieser Ausstellung gezeigten Exponate gehörten bis zum frühen 19. Jahrhundert zum Bestand des Klosters. Die Säkularisation des kirchlichen Besitzes unter Napoleon führte zu einem Ausverkauf der Klosterreliquien an verschiedene, meist private Sammler. Das Städelmuseum erwarb 1925 die beiden Altarflügel. Der Schrein samt Marienstatue befand sich zu dieser Zeit offensichtlich nicht auf dem freien Markt, denn sonst hätte man ihn der Vollständigkeit halber sicher auch erworben.
Neuere Forschungen an den Altarflügeln haben ergeben, dass auch die Rückseiten der Flügel ursprünglich mit Bibelszenen bemalt waren und erst in der Barockzeit mit neutralem Dekor übermalt wurden. Diese Tatsache lässt weitreichende Schlüsse auf den Umgang mit dem Altar im Mittelalter zu. Da Bilder im normalen Alltag der Bevölkerung im Mittelalter nicht existierten, hatten die Altarbilder eine außerordentlich hohe Bedeutung für die spirituelle Phantasie der Kirchgänger, konnten sie doch nur hier einen visuellen Eindruck der nur abstrakt angebeteten Heiligen gewinnen. Daher nimmt man heute an, dass der Altar damals auch für das Volk – zumindest an ausgewählten Tagen – rundum begehbar war, so dass sich die Besucher die Darstellungen der Bibelszenen ansehen konnten.
Die Erkenntnisse der Forschungen an diesem Altar haben das Städelmuseum dazu motiviert, die ursprüngliche Ausstattung der Klosterkirche aus den weltweit verstreuten Sammlungen zusammenzuführen und in einer eigenen Ausstellung wieder als Ganzes zu präsentieren. So haben die Besucher dieser Ausstellung die einmalige Gelegenheit, den Eindruck der Altenberger Klosterkirche in ihrem mittelalterlichen Zustand auf sich wirken zu lassen. Dazu gehören neben dem zentral platzierten Altar die kunstvoll gewebten Altardecken, die Wandbehänge, verschiedene Reliquien sowie Nachbildungen der damaligen Chorfenster der Kirche. Ein besonders eindrucksvolles Exponat ist das „Pflichtenheft“ der Küsterin, das wegen seiner eingeschränkten Lesbarkeit zusätzlich in Auszügen als Audio-Datei abrufbar ist. Auf diese Weise erfährt man viele Details über den Ablauf in einem mittelalterlichen Kloster.
Um sich einen Eindruck über die Wirkung des Altars auf damalige Kirchenbesucher zu verschaffen, kann man an einer Videostation 3D-Ansichten des Kircheninneren samt Altar aus verschiedenen Perspektiven anzeigen lassen. Man kann sich damit in die Lage sowohl des kirchlichen Personals als auch der normalen Kirchenbesucher versetzen, für die der Altar einen besonderen Fixpunkt der Verehrung darstellte. Dass die Innenwände der virtuellen Kirche dabei die geleckte Glätte des 20. Jahrhunderts und nicht das düstere Grau des Mittelalters verströmen, ist als – unfreiwilliges – ironisches Aperçu zu verstehen.
Diese Ausstellung eröffnet einen Blick zurück ins mittelalterliche Leben, wobei aber das Wissen um die Bedeutung der Kirche und der Reliquien sowie einige Phantasie erforderlich sind. Damals lebten die Menschen in einfachsten, um nicht zu sagen elenden Verhältnissen. Geringe Lebenserwartung, hohe Kindersterblichkeit, schlechte Ernährung sowie fehlender zivilisatorischer und kultureller Hintergrund prägten den Alltag. Da waren die Kirche und die durch sie vertretenen religiösen Instanzen die einzige seelisch-geistige Stütze im täglichen Kampf ums Überleben. Der Anblick der Tafelbilder und der anderen Reliquien an besonderen Tagen angesichts einer ansonsten bilderlosen Welt muss da ein einzigartiges Erlebnis gewesen sein, das die Kirchenbesucher in größter Ehrfurcht auf sich wirken ließen. Kurator Professor Sander brachte diesen Aspekt in seiner detaillierten Einführung besonders deutlich zum Ausdruck. Außerdem verwies er ausdrücklich auf die große Bedeutung der neuen Erkenntnisse über die Rückseitenbilder bei der Untersuchung der Bilder. Diese stellen seiner Ansicht nach nichts weniger als eine kleine Sensation dar und bilden die Grundlage für weitere zukünftige Forschungen.
Die Ausstellung „“Schaufenster des Himmels“ ist vom 23. Juni bis zum 25. September 2016 geöffnet. Weitere Einzelheiten sowie die Öffnungszeiten sind der Webseite des Museums zu entnehmen.
Frank Raudszus
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