Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt werden in „Made in Germania“ für einen Abend zu einer „Verbindungskneipe“
Wer sich mit dem Thema des Abends nicht vorab auseinandergesetzt hatte, dürfte irgendein – parodistisches oder satirisches – Stück über den Wertebegriff (oder -verfall) deutscher Industrieproduktion erwartet haben. Doch bereits das „Milieu“ im Foyer der Kammerspiele verwirrte den nichtsahnenden Besucher ein wenig: junge Männer mit Mützen und Bändern verschiedener Studentenverbindungen prägten das Bild in einem Maße, wie man es normalerweise nicht kennt, ja: genau genommen sah man diese Kleidung eigentlich überhaupt zum ersten Mal im Theater, da die Studenten sie normalerweise an diesem Ort bürgerlicher Bildung nicht zur Schau stellen.
Die Verwirrung nahm dann zu, als nach Einlasse keine Tribünen zum Sitzen einluden, sondern eine Reihe von Vitrinen wie in einem Museum typische Requisiten studentischer Verbindungen – Maske und Fechtanzug – zur gefälligen Betrachtung anboten. Das Publikum streifte – ob des ungewohnten Ambientes ein wenig ziellos – durch den ansonsten leeren Raum der Kammerspiele, bis schließlich vier als Darsteller erkennbare Personen die nicht existente Bühne betraten. Den Reigen eröffnete Samuel Koch mit dem kritischen Kommentar eines literarischen Zeitgenossen des Wartburgfestes, hinter dessen anonymen Worten man durchaus Heinrich Heine vermuten könnte. Und dann ging´s zur Sache. Ausgerechnet eine Frau (!) – Maria Radomski – schwang sich zur Sitzungspräsidentin einer Gründungsversammlung auf und sorgte gleich mit markigen Worten und Durchsetzungskraft für Sitzgelegenheiten und Getränke. Ohne Murren griffen Darsteller und Zuschauer unterschiedslos zu den hereingekarrten Biertischen und -bänken und bauten sie als großes „U“ auf der Bühne auf, von Maria Radomski mit schneidigen Worten angetrieben. Und noch ehe die ersten Biere (angeblich wahlweise mit(?) und ohne Alkohol) auf den Tischen standen, nahm sie das Präsidentinnenheft energisch in die Hand und ließ es nicht mehr aus derselben. Allerdings bestand dieses virtuelle Heft aus einem konkreten Säbel, den sie zu markanten Kneipen-Befehlen wie „ad pedes“ oder „ad sedes“ mit scharfem Klang auf den Tisch niederfahren ließ. Instinktiv duckte sich selbst der Rezensent vor diesem unerbittlichen Zeichen höherer Corps-Hierarchie.
Damit schälten sich langsam Struktur und Ziel dieses Theaterabends heraus: um dem Phänomen der Burschenschaften auf den Grund zu gehen, hatte das Team um Regisseur Roman Schmitz auf den typischen Außenblick des kritischen Theatermachers auf das Objekt seiner dramatischen Begierde verzichtet und war stattdessen „medias in res“ gegangen. Die Probenzeit für dieses „Verbindungsprojekt“ (Untertitel) verbrachte das Ensemble bei Festen und Veranstaltungen verschiedener Darmstädter Burschenschaften. Daher auch die vielen „Farben tragenden“ Besucher an diesem Premierenabend.
Im Folgenden ging Maria Radomski als Präsidentin mit schneidigem Käppi das ganze Ritual einer Verbindungsgründung durch: Die Leitbegriffe mussten gefunden werden, was durch Abstimmung des Publikums erfolgte – Peinlichkeit inbegriffen! Dann musste eine Ahnengalerie geschaffen werden, wobei man gar nicht erst unter Pablo Picasso anfing und schließlich John Lennon den Vorzug gegenüber J. S. Bach gab. Dazu wurde kräftig Bier getrunken, und jedes aufmüpfige Wort aus dem Publikum mit einer „Kanne“ geahndet: der Pflicht, ein Glas Bier „coram publico“ auf Ex zu trinken. Auch der „Bierverschiss“ – ein temporärer Rauswurf aufgrund übermäßigen Trinkens – kam zum Einsatz, wobei Mathias Znidarec die Rolle des Ausfälligen übernahm, der sich später mit der Hilfe eines Bürgen wieder in den erlauchten Kreis einschmeicheln musste.
Das „Schlagen“ durfte natürlich nicht fehlen, wobei man es allerdings bei dem umständlichen Einkleiden von Liese Lyon beließ und auf einen Showkampf verzichtete. Der Gefahr, sich allzusehr im Spaß der bierseligen Gemeinschaft zu verlieren, entging die Regie dadurch, dass immer wieder kritische Ausführungen zu den Burschenschaften, ihren Ritualen und ihren Vorurteilen aus einem Zeitraum von fast zweihundert Jahren zu Gehör kamen. Dabei wurden auch fremdenfeindliche und rassistische Aspekte nicht verharmlost oder gar verheimlicht. Da wurde es kurzfristig still, und so mancher schaute etwas betreten in sein Bierglas.
Das Ganze endete ganz normal mit der Verbaschiedung durch die Präsidentin nach erfolgreicher Gründung der neuen Burschenschaft „Germania“. Natürlich war das Ganze als Satire im Gewand einer „Reality Show“ gemeint, doch vor allem bei den jungen Studenten kam es eher als ein großer Spaß an, reagierten sie doch auf die fast militärisch anmutenden Befehle der Präsidentin eher kopfnickend, jedenfalls nicht gekränkt, und nahmen das Ganze als versteckte Liebeserklärung an das Verbindungswesen hin. Das war einerseits auf die grundsätzlich positive Haltung der Studenten zu diesem Thema, andererseits auf ihr offensichtlich nicht besonders ausgeprägtes Gespür für Parodie und Satire zurückzuführen. Sie lachten die von Maria Radomski glänzend intonierten Ausführungen des „Erstchargierten“ einfach weg. Ein anderer Grund mag darin liegen, dass die Darsteller dem ganzen Ritual offensichtlich mehr komischen als kritikwürdigen Wert beimaßen und daher unbewusst(?) diesen Aspekt besonders betonten. Die Quittung erhielten sie in Gestalt durchgängiger Heiterkeit.
Das kann jedoch nicht die Motivation für diesen Theaterabend gewesen sein. Warum sollte man im Theater einen geselligen Abend mit viel Gesang – natürlich „gaudeamus igitur“! – und Bier veranstalten, wenn nicht zum Zwecke einer gegen den Strich gebürsteten Darstellung? Doch auch wenn der kritische Aspekt – trotz der zitierten Kommentare – nicht so recht zum Tragen kam, hat man zumindest die studentische Jugend ins Theater gelockt, und vielleicht wird das den einen oder anderen dazu bewegen, auch andere Stücke im Theater zu besuchen. Zu wünschen wäre es.
Frank Raudszus
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