Das Staatstheater Darmstadt präsentiert die zeitgenössische Oper „Koma“.
Für ihr jährliches Festival im Mai gaben die „Schwetzinger Festspiele“ bei dem österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas eine Oper in Auftrag, die am 27. Mai eben dort ihre Premiere feierte. Das Staatstheater Darmstadt zeigt dieses Werk als erste Bühne im Rahmen des Repertoires; nach der Premiere am 24. Juni folgen bis Saisonende noch drei Aufführungen am 9., 21. und 31. Juli.
Im Mittelpunkt der Oper nach einem Text von Händl Klaus, ebenfalls Österreicher, steht eine Frau, Michaela, die nach einem Sturz in einen eiskalten See im Wachkoma liegt. Zwei Ärztinnen und drei Pfleger kümmern sich um ihr medizinisches Wohl, und die Verwandten versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Zu letzteren gehören ihr Mann Michael – man beachte die metaphorische Namensgleichheit! -, ihre Tochter und ihre Schwester Jasmin sowie deren Mann Axel. Mit letzterem verband Michaela eine Affäre.
Diese Situation hat Bühnenbildnerin Bärbel Hohmann metaphorisch in einen doppelten Bilderrahmen verpackt. Der vordere Goldrahmen umfasst die gesamte Bühne, der hintere einen schmaleren Teil des Bühnenrückraums. In beiden Rahmen zeigt ein Gaze-Rahmen nach Bedarf die Projektion der liegenden Michaela: auf dem vorderen den Kopf, auf dem hinteren die Füße. Damit simuliert das Bühnenbild die Perspektive der Hauptperson, die um sich herum die Verwandten sieht und von Zeit zu Zeit in der Ferne die Gesamtanordnung des Krankenhauses. Dieses ist einerseits die konkrete Perspektive der normal agierenden Teilnehmer, andererseits in gewisser Weise die „Nahtod“-Perspektive, wie sie von Patienten beschreiben wird, die sich selbst auf Tod oder Leben auf dem OP-Tisch haben liegen sehen. Um die Perspektive der Koma-Patientin zu stärken, spielt sich ein Großteil der Handlung in absoluter Dunkelheit ab, weit über das üblicherweise in Theatern erlaubte Maß hinaus. Das erforderte zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und Hinweise auf den Panikfall, die Intendant – und Regisseur! – Karsten Wiegand vor Beginn der Vorstellung ausgiebig erklärte. Tatsächlich nutzten dann einige Besucher das komplizierte Verfahren, um die Aufführung vorher zu verlassen. Ob wegen klaustrophobischer Anfälle oder wegen Ablehnung der Inszenierung, sei dahingestellt.
Die langen Dunkelphasen verfolgen natürlich einen dramaturgischen Zweck: sie sollen die seelisch-geistige Dunkelheit versinnbildlichen, in der sich Michaela vermeintlich befindet. Bekanntlich wissen selbst Hirnforscher bis heute noch nicht mit Sicherheit, was bei einem Wachkoma in einem Patienten vor sich geht und was er von den Geschehnissen in seiner Umgebung mitbekommt. Daher setzen die Autoren sowie die Regie mit einiger Konsequenz auf eine metaphorische Dunkelheit, die sich am besten durch eine konkrete darstellen lässt.
Das hat natürlich außer möglichen Panikattacken bei Zuschauern handfeste dramaturgische Folgen. Die Handlungsabläufe lassen sich jetzt nicht mehr optisch gestalten sondern nur noch als Hörspiel. Die kurzen Helligkeitsphasen zwischendurch dienen dann nur der Synchronisation des Orts- und Handlungsverständisses, als wolle die Regie sagen „So, jetzt seht ihr mal kurz die personelle und dramaturgische Konstellation, und dann können wir wieder verdunkeln“. Die Wirkung der Verdunkelung ist tatsächlich nicht zu bestreiten: man beginnt, sich in Michaelas orientierungs- und ausweglose Situation einzufühlen. Die Musik und die Stimmen, die sich eine Zeit lang in einem wabernden Klangteppich bewegen und von Zeit zu Zeit zu einem kakophonischen Crescendo verdichten, verstärken das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Michaela kann sich weder äußern noch wehren und muss die gut gemeinten Handlungen an ihr einfach erdulden. Vielleicht will sie in ihrer dunklen Welt nur Ruhe haben, kann diesen Wunsch jedoch nicht zum Ausdruck bringen. So ist sie den psychischen und physischen Zumutungen ihrer nächsten Verwandten ausgesetzt, auch wenn diese gar nicht aggressiv gemeint sind.
Die Verwandten konfrontieren Michaela – in guter Absicht! – mit ihrer Vergangenheit: mit der harten, schweigsamen Mutter, mit der gestorbenen Katze, mit gemeinsamen Jugenderinnerungen und -aktivitäten, mit dem Vater, mit ihrem beruflichen Scheitern. Doch diese Konfrontationen sind nicht anklagend gemeint, sondern dienen alle dem Zweck, Michaela aus ihrem Koma zu erwecken, ebenso wie die Berührungen ihrer Gliedmaßen einschließlich liebevoller Waschungen. Am Ende verklingt das Stück in leiser werdenden „Michaela“-Rufen. Ob sie stirbt oder weiter vor sich hin dämmert, bleibt offen.
Diese Oper beschreibt keine Handlung im klassischen Sinne mit Konflikten, deren Behandlung und eventueller Lösung, sondern eine sich nicht ändernde Situation. Die Beziehungen der beteiligten Personen untereinander und zu der Patienten stehen im Mittelpunkt. Da jedoch die meisten Handlungselemente in der Vergangenheit liegen, kommen sie nur verbal zum Ausdruck. Erst dieser „Hörspiel-Charakter“ ermöglicht die langen Dunkelphasen, da keine Handlung im eigentlichen Sinn erzählt werden muss. Die Erzählungen sind in Kunstgesang verpackt, und nur die Pfleger sind als reine Sprechstimmen konzipiert. Die Verwandten singen in einer expressiven Art, die dem Verständnis nicht gerade zuträglich ist. Als Zuschauer sollte man sich daher mit dem Inhalt vertraut gemacht haben, da die Oper nicht selbsterklärend ist. Zwar enthält das Programmheft das vollständige Libretto, der Nutzen dieser Zusatzleistung ist jedoch wegen der weitgehenden Dunkelheit verschwindend klein.
Die Musik stellt sowohl an das Orchester als auch an das Publikum höchste Anforderungen. Das Orchester muss über lange Strecken bei vollständiger Dunkelheit spielen. Die fehlende Noteneinsicht lässt sich zwar bei einem professionellen Musiker, die wir hier zweifellos vor uns haben, durchaus verkraften, wie jedoch die Funktion des Dirigenten aufrecht zu erhalten ist, entzieht sich unserer Beurteilung. Wir können nur feststellen, dass die Musiker ihren Part hervorragend meistern und auch die schwierigsten Klangkombinationen ohne Brüche und ohne falsche Einsätze (soweit erkennbar) zu Gehör bringen. Dirigent Johannes Harneit und seine Musiker aus dem Orchester des Staatstheaters leisten hier Großartiges. Allerdings transportiert weder die Musik aus dem Graben noch der Gesang auf der Bühne irgendwelche Informationen zum Handlungsablauf. Die Regie hat diesem Problem insoweit abgeholfen, als sie den Raum nutzt. So agiert die Sängerin der Michaela (Ruth Weber) stets von der Seite des Zuschauerraums aus, singt dabei jedoch keinen Text sondern bringt mit ihrem Sopran nur das jeweilige Befinden der Protagonistin zum Ausdruck. Später stellen sich das ärztliche Personal und die Verwandten getrennt an den beiden Seiten des Zuschauerraums auf und singen bzw. sprechen ihre Partien von dort. Das übt durchaus die beabsichtigte Wirkung einer – unerträglichen? – „Rundumbeschallung“ der Patientin aus und nimmt stellenweise apokalyptische Formen an, erhöht jedoch nicht die Verständlichkeit der unmittelbaren Abläufe.
Am Ende des Stücks hat sich der Besucher auf die zeitlose Gleichzeitigkeit der Bühnenhandlung eingestellt und versteht, dass es hier um Befindlichkeiten geht, die sich im Kreise bewegen und keinen Fortschritt zeigen. Hinter dem Stück scheint das Metaphorische durch, das viel mehr meint als nur das Koma einer einzelnen Person. Wer will, kann dahinter das Koma einer ganzen Gesellschaft sehen, die unfähig zu Reaktionen ist und die Ereignisse ringsum nur als Kakophonie der Stimmen und Zumutungen empfindet. Die schwindenden Rufe zum Schluss verbreiten dann eine nicht gerade optimistische Botschaft. Doch diese metaphorische Überhöhung muss natürlich nicht jeder Zuhörer für sich akzeptieren. Man kann das Ganze auch als Beschreibung eines medizinisch-familiären Einzelfalls sehen, muss sich dann jedoch auch der Frage nach der Aussage des Stücks stellen.
Die Künstler auf der Bühne und im Graben zeigen nicht nur wegen der Dunkelheit eine starke Leistung, sondern sind auch sängerisch auf der Höhe. Lini Gong singt und spielt eine ausdrucksstarke Jasmin mit ausgesprochen durchsetzungsstarkem Sopran, Ekkehard Abele verleiht dem Ehemann Michael hohe Präsenz, und Daniel Gloger singt als Jasmins Mann in der Bariton-Lage und brilliert in der Rolle von Michaelas Mutter fast parallel dazu als Countertenor mit scharfer Kontur. Ruth Weber liefert dazu die klagenden Sopran-Einwürfe der Michaela.
Das Publikum zeigte sich – abgesehen von den „Frühgehern“ – begeistert von dieser Aufführung und dankte allen Beteiligten einschließlich der Regie mit langem, kräftigem Applaus.
Frank Raudszus
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