Im 6. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt dirigiert Will Humburg eine unkonventionelle Carmen-Suite sowie Carl Orffs „Carmina Burana“
Im sechsten Sinfoniekonzert der Saison zollte Generalmusikdirektor Will Humburg – nach dem humoristischen 5. Sinfoniekonzert – noch einmal dem Humor seine Reverenz, wenn auch eher in subtiler Form als mit einem Dormusikantensextett. Schon das einleitende Werk – „Musique de Table für drei Schlagzeuger“ – konnte einen humoristischen Zug nicht verleugnen, und die „Carmen-Suite“ des russischen Komponisten Rodion Schtschedrin fügte noch eine kräftige Prise Witz hinzu. Dass Carl Orffs „Carmina Burana“, das Hauptwerk dieses Abends, ebenfalls über weite Strecken diese Kategorie bedient, wissen leider nur Kenner, da der Witz mangels einer szenischen Handlung nur den Texten zu entnehmen ist. Da der jedoch weitgehend in Latein oder mittelalterlichem Deutsch verfasst ist, kann der durchschnittliche Musikfreund diesen Witz kaum erfassen und muss sich allein an der Wucht der Musik erfreuen.
Der Franzose Thierry De Mey, geboren 1956, hat mit seiner „Musique de Table“ aus dem Jahr 1987 ein bizarres Werk für drei Schlagzeuger verfasst, dessen Name bereits ein wenig in die Irre führt. Bei „Schlagzeug“ denkt man an Pauken, Trommeln, Becken und ähnliche voluminöse und volltönende Instrumente. Hier aber setzten sich die drei Schlagzeuger Frank Assmann, Philipp Becker (beide Ensemblemitglieder)und Sebastian Karl an je ein Holzbrett und fingen an, dies allein mit den Händen zu bearbeiten. In perkussionistischer Homo- und Polyphonie zauberten sie komplexe Rhythmen aus dem Holz, die nach intensivem Einhören sogar so etwas wie eine Melodie bildeten. Sogar unterschiedliche Klangfarben entlockten sie dem ältesten aller Materialien für Musikinstrumente, und trotz „Pokerface“ aller drei Solisten schien es diesen viel Spaß zu bereiten. Spontaner Beifall für diesen kurzen Ausflug in die musikalische Holzbearbeitung.
Der Komponist des zweiten Werkes ist ebenfalls ein Zeitgenosse. Der 1932 geborene Rodion Schtschredin hat von sich selbst gesagt, die vielfältige und oft überwältigende Geräuschkulisse der alltäglichen Umwelt habe ihn und seine Musik entscheidend geprägt. So sind auch die Einflüsse der modernen Pop- und Rock-Musik sowie andere akustische Ereignisse in sein Werk eingegangen. In der „Carmen-Suite“ stützt er sich zwar weitgehend auf die bekannten Motive von Bizets Oper ab, variiert diese jedoch sowohl durch instrumentale Zuspitzungen und Erweiterungen als auch durch starke dynamische Kontraste. Dabei sind humoristische Absichten deutlich zu spüren, arbeitet er doch immer wieder mit dem Überraschungsmoment, das etwa in unerwarteten Paukenschlägen oder plötzlichen Ausbrüchen anderer Instrumentengruppen bestehen kann. Dabei unterlaufen diese plötzlichen – auch motivischen – Einfälle die Erwartungshaltung eines Publikums, das nicht nur die konkrete Vorlage – hier „Carmen“ – kennt sondern auch bestimmte musikalische Abfolgen verinnerlicht hat. Ähnlich dem berühmten „Trugschluss“ nimmt die Musik bisweilen auch eine unerwartete harmonische Wendung, um dann kurz darauf wieder in das gewohnte Gleis zurückzukehren – bis zur nächsten Überraschung. Bei den „Ohrwürmern“ dieser Oper hat sich Schtschedrin einen besonderen Gag einfallen lassen. Die Arie „Auf in den Kampf“ lässt er vom Orchester nach kurzer Andeutung des Themas fast nur in Form der harmonischen Begleitung spielen, so dass der Drang des Publikums, innerlich (oder gar äußerlich?) mitzusingen, schnöde unterlaufen wird. Will Humburg nutzte diesen musikalischen Überraschungseffekt dazu, sich zum Publikum zu drehen und mit enttäuscht- auffordernder Miene zum Mitsingen zu animieren – nicht unbedingt in vollem Ernst, was die Zuhörer auch so verstanden. Mitgesungen wurde nicht, nur in der ersten Reihe erhoben sich einige schwache Stimmen. Doch Schtschedrins Suite ist deshalb kein musikalischer Scherz, der außer „Schenkelklopfen für Insider“ keinen hohen musikalischen Wert aufweist. Der Komponist nutzt die Klangvielfalt eines großen Orchester konsequent und unter Berücksichtigung der klanglichen Wirkung aus und verleiht damit den Themen Bizets eine völlig neue Ausdruckskraft. Schtschedrins konzertante Version der Oper ersetzt sozusagen deren szenische Aufführung, denn was sonst auf der Bühne durch die Darsteller gezeigt wird, präsentiert jetzt eine ausgefeilte und gesteigerte Version der Musik. Wer die Oper kennt, kann sich dann hinter diesen musikalischen Kontrasten die Bühnenszenen vorstellen. In dieser Hinsicht war das Stück eine hervorragende Vorbereitung auf die „Carmen“-Premiere am 4. Juni und somit eine gelungene Marketingaktion. Den Musikern schien diese markante Version eines altbekannten Melodienreigens sehr viel Spaß zu bereiten, und sie warfen sich buchstäblich in die unerwarteten Eruptionen der einzelnen Instrumentengruppen. Auch hier viel Beifall eines Publikums, dass offensichtlich Spaß an dieser Musik hatte.
Nach der Pause präsentierte Will Humburg dann die große optische und musikalische Kulisse mit Chor und Orchester. Gleich der Beginn mit dem „O Fortuna“ und den Paukenschlägen ist ein wahrer „Aufwecker“; die anschließenden rhythmisch auf- und absteigenden Chorpassagen nehmen das Publikum mit ihrer Eindringlichkeit gefangen. In vielen Aufführungen werden nur diese eingängigen und besonders effektvollen Passagen präsentiert, das Staatstheater Darmstadt jedoch interpretierte im Rahmen dieses Konzertes das gesamte Werk, so dass sich dieser sinfonische Abend denn auch eine halbe Stunde länger hinzog als üblich. Als Solosänger traten Jana Baumeister (Sopran), Martin Koch (Tenor) und Martin Berner (Bariton) auf und konnte ihrer Mimik und auch Gestik durchaus den humoristischen Hintergrund der „Carmina Burana“ entnehmen, denn vor allem die beiden Männer unterlegten ihren Gesang mit prahlerischen oder aufgeregten Gesten, die durchaus karikierende Wirkung ausüben sollten. Neben diesen Solo-Auftritten bot auch der Chor komplexe Zwiegespräch in Frage- und Antwortpassagen, und wer sich nicht die Mühe machen wollte, die lateinischen Texte zu übersetzen, konnte die Übersetzungen im Programmheft mit- oder später nachlesen. Diese beweist, dass es hier durchaus um bodenständige Themen des Alltagslebens geht und nicht etwa um geistliche Themen, obwohl die Musik mit ihrer mittelalterlichen Anmutung bisweilen den Eindruck erwecken mag.
Die Stimmgewalt des Chors und die ebenso mächtige Instrumentalentfaltung des Orchesters wurden ein wenig kompensiert durch den Auftritt eines Kinderchors, der im Verein mit den Solosängern zartere Töne einbrachte. Allerdings verschwand er einmal zu früh von der Bühne, und Dirigent Will Humburg musste ihn während seines Dirigats mit fast verzweifelten Handbewegungen wieder aus den Kulissen herauswinken. Man freut sich ja als Zuschauer, wenn einmal im perfekten Ablauf eines Konzerts solch kleine Pannen auftreten und damit zeigen, dass überall nur Menschen arbeiten……
Als gegen halb elf das Konzert mit dem letzten „O Fortuna“ stimmgewaltig endete, brach spontan begeisterter Beifall aus, der noch einmal mindestens zehn Minuten andauerte und allen Beteiligten gleichermaßen galt. Auf dem Nachhauseweg und vielleicht auch die halbe Nacht dürfte diese Musik den Besuchern noch in den Ohren geklungen haben.
Frank Raudszus
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