Der Zirkus „Roncalli“ gastiert mit einem temperamentvollen Programm in Darmstadt.
Gleich der Beginn dieses Programms setzt ein Zeichen: Nach einigen eröffnenden Späßen der Clowns Sergej & Gabor sowie launigen Worten des „Conferenciers“ Yann Rossi trabt ein gut gebauter, blütenweißer Schimmel in die leicht mit Disco-Nebel verschleierte Manege. Ohne einengendes Zaumzeug oder die Peitsche schwingende Dressurmeisterin dreht er ruhig seine Kreise und genießt offensichtlich seine Freiheit. Denn so lautet auch der Titel dieser Nummer der Saabel-Familie: „Pferde mit viel Freiheit“. Doch mit dieser Freiheit ist es schnell vorbei, wenn drei Reiterinnen – nun auf anderen Schimmeln – einreiten und eine so exakte wie schwierige Dressurnummer auf höchstem Niveau vorführen. Zugegeben: eher zirkushaft denn den Regeln des Dressursports folgend, aber wir sind hier ja auch im Zirkus. Da richten sich die Pferde auf oder zeigen gezirkelte, artifizielle Schrittkombinationen und Beinbewegungen. Zwei stämmige Rappen komplementieren das weiße Trio, und Tänzerinnen im Zentrum der runden Manege schwingen dazu große Tücher.
Wir haben den Begriff „Conferencier“ bewusst in Hochkommata eingeschlossen, denn Yann Rossi verzichtet weitestgehend auf das ureigene Präsentationsmittel dieses Berufsstandes: die Sprache. Wie auch alle anderen Darsteller kommt er ganz ohne verbale Äußerungen aus, von der kurzen Begrüßung und der Verabschiedung abgesehen. Alles andere erfolgt pantomimisch, ergänzt durch einige überraschte, auffordernde oder kritische Ausrufe. Der Zirkus hat sich offensichtlich vorgenommen, ein Programm ganz ohne Sprache zu gestalten, und das funktioniert hervorragend. Yann Rossi ist auch ohne rhetorische Ausflüge als Moderator und „Ansager“ präsent und weckt beim Publikum all die Assoziationen, die der Zirkus benötigt.
Bei den Komikern – der gute alte „Clown“ hat sich ja im Laufe der Zeit weiter entwickelt – kennen wir ja seit längerem den wortlosen Witz. Dafür sind hier Sergej Maslennikov und Gabor Vosteen zuständig. Ersterer spielt mal den etwas tumben Aufpasser in der Livree, der immer knapp daneben haut, dann wieder zeigt er plötzlich erstaunliche Fähigkeiten in der Jonglage oder auf diversen Musikinstrumenten. Gabor Vosteen, ein spindeldürrer junger Mann mit hochgegeltem Haar, verbindet ein geradezu artistisches Flötenspiel – bis zu fünf Instrumente gleichzeitig! – mit trockenem pantomimischem Witz. Mit zufällig ausgewählten Zuschauern stellt er ein veritables kleines Orchester zusammen, dem er mit viel Slapstick-Witz sogar ein kleines Konzert entlockt. Es versteht sich von selbst, dass es dabei viel zu lachen gibt.
Jede neue Nummer erfolgt flüssig – fast natürlich – aus der vorhergehenden, wobei das Manegenpersonal schnell und effizient arbeitet. Brüche in der Art der Darbietungen werden durch etwas Nebel, kräftige Musik oder kleine Späße der Komiker überbrückt. Da fliegen dann schon mal Bumerangs so knapp über die Köpfe der Zuschauer in den ersten Reihen, dass diese die Köpfe einziehen, kehren jedoch brav zum Werfer zurück. Da bewerfen die Clowns einzelne Zuschauer mit Konfetti oder klettern wie Gabor Vosteen Flöte spielend über die Zuschauersitze.
Als Ergänzung zur Pferdedressur verzaubern Tiziana, Alexandra und Kelly das Publikum mit einer „Petersburger Schlittenfahrt“, bei der vier Huskys und vier Samojedenspitze einen weißen Schlitten (auf versteckten Rädern) um die Manege jagen und anschließend eine ganze Reihe unterschiedlicher Dressurkunststücke abliefern. Yves Nicols präsentiert eine atemberaubende und mit allerlei Späßen – scheinbares Scheitern – garnierte Jonglage, und Victor Minasov rollt und tanzt buchstäblich in einer riesigen Kaugummi-Blase durch die Manege und reizt das Publikum durch vielerlei überraschende Späße zum Lachen.
Doch auch die Akrobatik kommt hier zu ihrem Recht, vor allem im zweiten Teil. Der junge Andrej Ivakinenko tanzt und radelt im roten Stachelkleid auf einem Drahtseil, dass einem der Atem stockt, und Konstantin Mourariev müht sich als vermeintlich übergewichtiger Nichtsportler artistisch-humoristisch in einem Rhönrad ab. Natürlich beherrscht er es perfekt, und nach der Vorführung ist sein Bauch (dank Luftblase unterm Hemd) tatsächlich verschwunden. Die „Curatola Brothers“ zeigen, welch unglaubliche Kunststücke der Körperbeherrschung zu zweit mit dem Handstand möglich sind, und das Duo Minasov mit Elena und Victor Minasov verblüfft das Publikum mit sekundenschnellen Kleiderwechseln. Auch wenn man als Zuschauer genau hinschaut, versteht man nicht, wie Elena nach nur sekundenkurzer Verhüllung in einem neuen Dress hervortreten kann. Kelly und Alexandra präsentieren eine so anspruchsvolle wie – dank atemberaubender Kostüme – erotische „Körperverbiegungsnummer“, und als abschließenden Höhepunkt winden sich die knapp bekleideten und golden bemalten Körper von Yves & Amba am Tuch umeinander, schrauben sich in die Höhe und lassen sich derart in die Füße des anderen fallen, dass dem Publikum Schreckensrufe entweichen.
Das Ganze ist garniert mit überleitenden Tänzen der Ballett-Gruppe und immer wieder eingeworfenen Späßen der Komiker, die dabei nicht nur ihren vielfältigen Humor sondern auch ihrer Fertigkeiten in verschiedenen akrobatischen Disziplinen und auf diversen Musikinstrumenten beweisen.
Als an diesem Abend nach zweieinhalb Stunden alle Darsteller zu den Klängen des exzellenten „Roncalli Royal Orchesters“ aufmarschierten, war das Publikum durch das Tempo und die Qualität des Programms derart „aufgeheizt“, dass es die Künstler nicht gehen lassen wollte und durch „stehende Ovationen“ noch ein paar akrobatische und humoristische Zugaben „erzwang“. Dieses Programm kann man dem Darmstädter Publikum aus vollem Herzen empfehlen!
Frank Raudszus
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