Ein engagiertes Plädoyer für die „Vereinigten Staaten von Europa“.
Über Gegenwart und Zukunft von Europa wird derzeit europaweit diskutiert, ja: gestritten. Die Finanzkrise, der drohende Zusammenbruch Griechenlands und die Probleme der anderen südlichen EU-Länder, Mario Draghis fragwürdige Geldpolitik und nicht zuletzt der Flüchtlingsstrom aus den Nahen Osten haben zu diametral entgegengesetzten Positionen der einzelnen EU-Länder geführt. Dazu hat sich in allen Ländern ein breites Misstrauen gegen die Brüsseler Verwaltung entwickelt, das im Verein mit einem unverkennbaren Neo-Nationalismus – Front National, UKIP und AfD lassen grüßen – an den Grundfesten der EU nagt.
Der Historiker Brendan Simms, dessen Buch über die Schlacht von Waterloo wir hier besprochen haben, und der Journalist Benjamin Zeeb, der selbst der Initiative „Project for Democratic Union“ angehört, schildern in diesem kleinen Band die gegenwärtige, ihrer Meinung nach brandgefährliche Situation Europas und die möglichen Wege aus der scheinbaren Sackgasse.
Der bedrohliche Titel ist aus der Sicht der Autoren kein blinder Alarmismus sondern durchaus berechtigt, da die europäischen Regierungen in keiner der o. a. Problembereichen einen gemeinsamen Standpunkt finden können. Draghis nahezu unbegrenzte Anleihenkäufe und seine Nullzinsen finden vor allem die Südländer gut, die östlichen Länder wollen gar keine und die anderen Länder nur wenige Flüchtlinge aufnehmen, und Griechenland wollen viele aus der Eurozone entfernen. Das hat jedoch nach Meinung der beiden Autoren zur Folge, dass sich Europa geopolitisch nicht als maßgebliche politische(!) Macht positionieren kann, was manchem links oder alternativ denkenden Politiker und Bürger sogar gefallen mag. Doch eine Wirtschaftsmacht dieser Größenordnung ohne politisches Gewicht wird schnell zum Spielball anderer Mächte, in diesem Falle vor allem Russlands. Simms und Zeeb weisen auch darauf hin, dass sich die EU-Länder gerne auf die Sicherheitsgarantien der USA verlassen und deshalb die eigene Anstrengungen hinsichtlich einer selbstbewussten Sicherheitspolitik minimieren. Es ist ja auch einfacher, die Interventionspolitik des Schutz gewährenden großen Bruders zu kritisieren, als die machtpolitische Situation realistisch zu analysieren und daraus konkrete aber unangenehme Konsequenzen zu ziehen. Die beiden Autoren weisen deutlich auf das nachlassende Interesse der USA an Europa und ihre Hinwendung zum pazifischen Raum hin. Die Konsequenz dieser geradezu sorglosen Haltung könnte leicht eine Abhängigkeit von Russland sein, wenn die uneinigen Länder der EU sich einzeln mit dem östlichen Nachbarn zu arrangieren versuchen, was auch zu einer zweiten Ukraine im Baltikum führen könnte.
Ein eigenes Kapitel widmen die Autoren der „Deutschen Frage“. Diese besteht ihrer Ansicht nach jedoch nicht in einer „Hegemonie“ Deutschlands, sondern im Gegenteil in dessen Führungsverweigerung. Fast ein wenig sarkastisch stellen sie fest, dass die den (zahlenden) angeblichen Hegemon heftig kritisierenden Problemländer die Eurozone freiwillig nie verlassen würden, da sie wüssten, dass es ihnen ohne diesen „Hegemon“ noch viel schlechter gehen würde. Die machtpolitische Zurückhaltung Deutschlands, u. a. bei Militärinterventionen im Nahen Osten, aber auch gegenüber Russland, schaffe ein Vakuum, das z. B. Russland gezielt ausnutze. Ein Entlassen der Griechen aus der Euro-Zone böte Russland die einmalige Chance, die EU über Südost-Europa zu spalten. Daher dürfe Deutschland als größte und wirtschaftlich stärkste Nation auch ein teilweises Auseinanderbrechen der Euro-Zone nicht zulassen. Andere Länder könnten diese Funktion nicht ausfüllen, da sie – wie etwa Frankreich – in größerem Maße von Deutschland als dieses von ihnen abhängig seien und daher im Kreis der EU-Länder nicht die erforderliche Durchsetzungskraft hätten.
Die Idee der EU-Gründer, dass sich die Länder im Laufe der Zeit aufgrund der gemeinsamen Währung und der langjährigen freizügigen Zusammenarbeit automatisch zu einer engeren Union zusammenschließen würden, verwerfen die Autoren als fatales Wunschdenken. Wie die politischen Trends in fast allen EU-Ländern zeigten, breite sich starker Widerstand gegen eine weitere Aufgabe nationaler Kompetenzen aus, den die jeweiligen Regierungen nicht ignorieren könnten. So beruhe auch die Vorstellung der Bundesregierung, die EU als konföderierten Bund – d.h. als Verbund souveräner Nationalstaaten – zu konsolidieren, auf einer gravierenden Fehleinschätzung politischer Prozesse. Die politische Union mit zentraler Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik sei Voraussetzung, nicht Endpunkt eines gelungenen Integrationsprojektes.
Simms und Zeeb haben auch schon historische Vorbilder im Auge. Mit dem Pakt zwischen England und Schottland, der im Jahr 1707 Großbritannien konstituierte, schufen beide Länder eine handlungsfähige Union, die sich den anderen europäischen Mächten auf Augenhöhe stellen konnten. Ähnliches gilt für die USA, die sich 1787/88 als souveräner Staat gründeten, indem die einzelnen Bundesstaaten elementare Funktionen an die Zentralregierung abgaben und dies sogar in einer eigenen Verfassung festschrieben. Diese beiden Beispiele sind für die Autoren schlagende Beweise, dass nur der konkrete, gewollte Akt der Staatsgründung auf die Dauer eine (über)lebensfähige Union schaffen kann, die sich mit Recht „Vereinigte Staaten von Europa“ nennen kann. Angesichts der aktuellen politischen Trends von Polen bis Portugal und von Griechenland bis Großbritannien sind sich die beiden darüber klar, dass dies eine sehr schwierige Aufgabe sein wird, aber sie sehen keine Alternative dazu, da andernfalls Europa Stück für Stück zerfallen werde, erst durch – verordnete oder freiwillige – Austritte aus dem Euro, dann durch neue Grenzen zur Flüchtlingsabwehr, schließlich durch wirtschaftlichen Protektionismus. Zwar sehen sie nicht die Gefahr neuer europäischer Kriege wie im 19. und 20. Jahrhundert, aber eine dramatische Marginalisierung Europas, in der schließlich einzelne Staaten -gegeneinander! – in bilateralen Verhandlungen mit den Großmächten um deren Anerkennung buhlen werden.
Das Buch „Europa am Abgrund“ ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 140 Seiten und kostet 12,95 Euro.
Frank Raudszus
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