Das Staatstheater Darmstadt zeigt Christian Josts zeitgenössische Oper „Angst. 5 Pforten in das Innere der Angst“.
Die Literatur ist voller Geschichte über existenzielle Grenzerfahrungen. Die Leser verschlingen diese Lektüre geradezu, obwohl oder gerade weil die meisten von ihnen – zumindest in den westlichen Industrieländern – nie in solche Situationen geraten sind und es wohl auch nicht wünschen. Gerade deshalb übt der Grenzbereich zwischen Leben und Tod eine bisweilen schon morbide Faszination aus.
Im Jahr 1985 bestiegen die beiden Bergsteiger Simon Yates und Joe Simpson den Siula Grande in den Anden. Beim Abstieg brach sich Joe Simpson ein Bein, doch Simon Yates seilte ihn Meter für Meter ab. Als Simpson im Schneesturm über eine Kante rutschte und über einem nicht abschätzbaren Abgrund hing, drohte er durch sein Gewicht auch Simon Yates in den Tod zu ziehen. In dieser hoffnungslosen Situation entschloss sich Yates in letzter Minute, das Seil zu kappen. Doch wunderbarerweise überlebten beide den Abstieg, und Simpson schrieb später ein Buch über diese schrecklichen Stunden und Tage.
Dieses Buch hat Christian Jost als Grundlage für seine einstündige Choroper herangezogen, die Intendant Karsten Wiegand höchstpersönlich inszeniert hat. Dazu hat Bärbl Höhmann die Bühne des großen Hauses zum Zuschauerraum mit begrenztem Platzangebot umgestaltet. Eine stufenförmige, mit weißen Tüchern bedeckte „Gegentribüne“ versperrt den Blick auf die Sitzreihen des Großen Hauses, und das kammermusikalisch besetzte Orchester sitzt zwischen dieser Konstruktion und den Zuschauern. Durch eine abgehängte Decke mit fensterartigen Kassetten sieht man auf einen Himmel, über den die Wolken eines schweren Sturms jagen. Über die Stufen der Gegentribüne huschen die Bilder einer eisigen Berglandschaft, über der eben dieser Sturm heult, und später kämpfen hier in alten Schwarzweiß-Szenen Bergsteiger gegen die Naturgewalten. Doch die Stufen der Tribüne brechen die Sequenzen derart, dass sich statt einer nachvollziehbaren Geschichte nur die fetzenartige Eindrücke eines existenziellen Kampfes ergeben.
In der „Pforte I“ gibt der Chor – anfangs mitten zwischen den Zuschauern sitzend – in gedrängten, von Panik durchfluteten Sätzen die Situation aus der Sicht des verletzten Bergsteigers wieder, der auf Gedeih und Verderben seinem Kameraden ausgeliefert ist und selbst nichts zur Rettung beitragen kann. Satzfetzen, einzelne Worte und geradezu ostinat wiederholte Gedankensplitter prägen diese Phase. Das Orchester liefert dazu grelle, expressive Klänge, die weniger eine durchdachte Auseinandersetzung mit der gefährlichen Situation als vielmehr die kreatürliche Reaktion auf eine fast aussichtslose Lage widerspiegeln. Die mal geflüsterten, dann gewisperten oder laut gedachten Worte und Satzfetzen kommen aus den verschiedensten Richtungen des Zuschauerraums und verbreiten ein zunehmendes Gefühl existenzieller Bedrohung und tödlicher Gefahr. Die Videofetzen abstürzender Bergsteiger steigern diese multimediale Collage zu einem fast apokalyptisch zu nennenden Horror, dem sich niemand entziehen kann.
Die „Pforte II“ setzt dagegen ein fast transzendentes Bild, wie es manche Nahtod-Erfahrung mit sich bringen mag. Die Chorsänger, alle in weiße Overalls gehüllt, haben sich nun auf der Gegentribüne aufgestellt und tragen dort zur Begleitung des Orchesters Hölderlins Gedicht „An die Parzen“ vor. So mag es manchem ergehen, der angesichts einer aussichtslosen Situation aufgibt und loslässt, das Resümee seines Lebens zieht und im Geiste zurückgeht in die Kindheit. Später geistert erst das Bild eines kleinen Jungen mit schreckgeweiteten Augen über die weißen Sänger und Stufen, später läuft ein echter junge von etwa zwölf Jahren angstvoll durch die Reihen der Sänger und verkriecht sich am Rande der Tribüne. Eine weitere „Pforte“ thematisiert die Traumata, die ein solches existenzielles Erlebnis auslöst. Die Erfahrung eines lebensbedrohenden Schreckens besetzt alle Erkenntniskanäle und macht eine rationale Aufarbeitung unmöglich. Sogenannte „Flashbacks“ können die Situation jederzeit wieder hervorrufen, sobald nur eine Umgebungsbedingung – etwa ein Schneesturm – die Assoziationskette startet. Der Chor schildert diese Empfindungen in bewegten, verteilten Worten. Leider versteht man den gesprochenen Text aufgrund der künstlerisch gestalteten Wiedergabe nicht, doch der Eindruck des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit stellt sich aufgrund der Intensität des Sprechgesangs und der Begleitung durch das Orchester dennoch ein. Auch hier kann sich der Zuschauer dem bedrohlichen und mit normalen menschlichen Maßstäben nicht mehr fassbaren emotionalen Zustand nicht entziehen. Das Bild zweier Gehirnhälften, auf die weißen Tücher der Sänger und der Tribüne geworfen, erinnert an die Überforderung dieses zentralen menschlichen Organs in solchen Extremsituationen.
Während des Fortschreitens durch die einzelnen „Pforten“ entledigen sich die Chorsänger ihrer weißen Overalls, wobei sich darunter jedoch wieder identische Overalls zeigen. Diese „Häutung“ lässt sich als eine Metapher für die Häutung der Seele deuten, die diese während der wiederkehrenden Trauma-Attacke erlebt. Das Schlimme daran ist, dass sich nach der Häutung nichts ändert und keine Erleichterung eintritt. Diese vergeblichen Häutungen erinnern an das Bild von Sisyphos, der seinem Leid auch nie ein Ende setzen kann.
Die letzte „Pforte“ führt dann zurück zu dem Ereignis am Berg, nun aber aus der Sicht des anderen Bergsteigers. In einem gewaltigen, grellen Crescendo des Orchesters schlagen sich die Verzweiflung und später die Schuldgefühle Simon Yates´ nieder, der seiner Meinung nach seinen Kameraden dem Tod überantwortet hat. Der Chor trägt dazu einen Gesang bei, der streckenweise an ein Requiem erinnert. Dieses „Requiem“ besingt in düster-jenseitigen Klängen die Leere und Einsamkeit des Todes sowie die Hilflosigkeit des Menschen in existenzieller Bedrohung.
Das Staatstheater ist mit dieser Produktion fraglos ein Risiko eingegangen, sowohl finanziell als auch künstlerisch. Die durch die Bühnenkonstruktion bedingte Einschränkung der Zuschauerzahl wirkt sich negativ auf die Auslastung aus, und eine Ablehnung durch das Publikum könnte diese Situation noch verschärfen. Doch das Risiko hat sich in diesem Fall gelohnt, denn das gesamte Ensemble liefert hier eine beeindruckende Gesamtleistung ab, der sich kein Zuschauer entziehen kann. Man spürt die gespannte Aufmerksamkeit und die innere Berührtheit des Publikums fast physisch, und der spontane, von „Bravo“-Rufen begleitete Beifall am Schluss unterstrich diese Wirkung noch. Das Orchester unter Thomas Eitler-de Lint erzeugt dazu eine so präzise wie kompromisslose Klangkulisse, die sowohl den expressiven als auch den transzendentalen Partien dieser Oper einen tiefen und treffenden Ausdruck verleiht.
Man kann diese Oper zwar nicht mit den Worten „Mach dir ein paar schöne Stunden – gehe ins Theater“ weiter empfehlen, aber man kann jedem Opern- und Theaterfreund nur dringend raten, diese Inszenierung nicht zu verpassen. Man wird so etwas auch an anderen Bühnen nicht oft zu sehen und zu hören bekommen.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Thomas Müller
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