Eine Reise durch die Krisengebiete dieser Welt.
Dieses Buch des vielseitigen Intellektuellen mit iranischen Wurzeln ist schon einige Jahre alt und enthält vor allem Berichte aus den Jahren 2006 bis 2012. In einer Zeit zunehmender weltpolitischen Krisen, Bürgerkriege und Migrantenströme können sich in einem solchen Zeitraum schon bedeutende Änderungen ergeben. Doch Kermani geht in seinen Beiträgen weniger auf brandaktuelle, sozusagen im Werden begriffene Konflikte ein als eher auf die permanenten Konfliktherde in verschiedenen Regionen.
In dieser Reportage-Reise hat er folgende Gebiete besucht: Kaschmir (je nach Sicht Indien oder Pakistan), Indien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak, Syrien, Palästina und Lampedusa (Italien). In all diesen Ländern herrschen mehr oder minder bekannte Konflikte, die teils nur latent vor sich hin brodeln, teils aber schon offen ausgebrochen sind. Lampedusa stellt insofern eine Ausnahme dar, als es keine (Bürger-)Kriegsregion ist sondern nur die Konsequenzen anderer Konfliktherde zu tragen hat – und mit ihm Europa. Die Balkanländer und damit die Entwicklung der letzten zwei Jahre gehören aufgrund des Erscheinungsdatums nicht zum Themenkreis dieses Buches.
Das Buch beginnt in Kaschmir, einer Region, die als Konfliktherd ein wenig in den Hintergrund gerückt ist. Hier hat die englische Kolonialverwaltung bei ihrem Rückzug ein Dauerproblem hinterlassen, indem sie das Gebiet trotz eines starken muslimischen Bevölkerungsanteils den Indern zugeschlagen hat. Entschuldigend für die Engländer lässt sich anführen, dass es damals noch nicht den jenen ausgeprägten Islamismus gab und die Muslime weitgehend im Frieden mit den Hindus lebten. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten aus mehreren Gründen geändert: einerseits verfolgt Pakistan einen sowohl religiös als auch national gefärbten Territorialanspruch, andererseits lehnte Indien lange Zeit jedes Zugeständnis ab und gestand den Muslimen auch keine größere Eigenständigkeit zu. Kermani beobachtet bei den Muslimen angesichts der vollständigen militärischen Überwachung und der Repression seitens der indischen Behörden eine zunehmende Resignation, die jedoch von muslimischen Extremisten konterkariert wird. Die muslimische Bevölkerung hat die Hoffnung auf weitgehende Autonomie aufgegeben und wäre schon über tägliche Erleichterungen und Frieden froh, doch die Inder fürchten immer noch den islamistischen Terror oder schützen diese Angst zumindest als Grund für die Totalüberwachung vor. Der Konflikt bleibt latent bestehen, und es braucht zum gewaltsamen Ausbruch nur einen Terrorakt gleich welcher Seite. Allerdings hütet sich Kermani, Position zu beziehen und weist Schuldige bei konkreten Verstößen nur dann aus, wenn diese zweifelsfrei identifiziert sind. Ansonsten zitiert er Anwohner mit ihrer jeweiligen Zugehörigkeit bei Schuldzuweisungen an die jeweils andere Seite.
Ergänzend dazu berichtet er in besorgtem Ton aus dem indischen Bundesstaat Guajarat, wo eine wachsende nationalistisch-hinduistische Bewegung deutlich Stellung gegen die Muslime nimmt und ethnische wie religiöse „Reinheit“ fordert. Dem Regierungschef dieses Bundesstaates, Narendra Modi, gaben liberale Inder damals geringe Chancen auf den Regierungsposten für ganz Indien und spielten damit die Gefahr herunter. Außerdem seien seine antimuslimischen Ausfälle wahltaktisch begründet und indienweit nicht konsensfähig. Nun, mittlerweile ist Modi Indiens Regierungschef. Man hört zwar nichts über antimuslimische Akivitäten, aber die Fragezeichen bleiben natürlich bei dieser Vergangenheit.
Ein weiterer Aspekt des indischen Alltags ist die Vertreibung der Kleinbauern von ihrem Land, wenn dort Industrie angesiedelt werden soll. Da Indien auf dem flachen Land über keine schriftlichen Besitzdokumente verfügt, ist es für Behörden oder gewiefte Geschäftsleute ein Leichtes, die Bauern von ihrem Land zu vertreiben und sie der Armut zu überlassen. Hier wird ein neues Lumpenproletariat mit allen möglichen Konsequenzen herangezogen.
Eine andere Reise führte Kermani zu den Sufis nach Pakistan, die einer mystischen Variante des Islams huldigen. Da diese Form der Religiosität muslimischen Fundamentalisten gegen den Strich geht, werden die Sufis landesweit systematisch ausgegrenzt und in der Ausübung ihrer Religion behindert. Typische sufistische Feste werden wegen angeblicher Terrorgefahr verboten und Heiligtümer entweder geschlossen oder ihr Besuch eingeschränkt. Auch hier werden – innerhalb der eigenen Religion – Schranken aufgebaut und potentielle Rebellen oder gar Terroristen herangezogen.
In Afghanistan war Kermani zwei Mal: einmal als „embedded journalist“ bei der ISAF bzw. NATO und einmal als privater Besucher. Beim ersten Besuch im Jahr 2006 beschreibt er die Situation mit einem militärischen Schwerpunkt – Sicherheit, Terror, Gegenmaßnahmen, humanitäre Unterstützung und Befindlichkeit der ausländischen Soldaten -, beim zweiten eher die afghanische Seite mit dem Wunsch nach Frieden, der Angst vor den Taliban, der Skepsis gegenüber den externen Truppen und die Probleme im täglichen Leben. Auch hier hält sich Kermani mit Schuldzuweisungen zurück und schildert eher die aktuelle Situation und das, was sich aus ihr entwickeln könnte. Ihm sind Handlungsalternativen für die Zukunft eindeutig wichtiger als wohlfeile Vorwürfe an die bekannten Adressen.
Das ist nur eine Auswahl der Reportagen aus den Krisengebieten der Welt. Da die einzelnen Berichte nicht aufeinander aufbauen oder voneinander abhängen, braucht man das Buch nicht in einem Zug zu lesen. Man kann sich je nach Interesse einzelne Berichte heraussuchen und über diese Informationen über bestimmte Konfliktherde erhalten. Wohltuend sind die Objektivität und Sachlichkeit der Berichte, ohne dass Kermani deshalb einer bestimmten Seite nach dem Mund redete. Als dokumentarische Informationsquelle zum Zeitgeschichte ist dieses Buch wärmstens zu empfehlen.
Frank Raudszus
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