Die Neue Bühne Darmstadt inszeniert „Die Wendeltreppe“ hitchcockisch
Einen „Psychothriller à la Hitchcock“ verspricht der Programmflyer der Neuen Bühne in Darmstadt. Tatsächlich ist schon die Titelheldin, die Wendeltreppe, ein beliebtes Stilmittel Alfred Hitchcocks. Die Symbolkraft einer Treppe liegt insbesondere in der Abwärtsbewegung – die Wendeltreppe steht sogar für eine Abwärtsspirale. Sicherheit gewährt nur die Ebene am oberen Ende der Treppe, während jede Stufe hinab mit wachsender Gefahr verbunden zu sein scheint. Die Treppe in besagtem Stück führt bis in den Keller – ohnehin ein unwirtlicher und angstbehafteter Raum – und symbolisch in den Abgrund der menschlichen Seele und damit ins Verderben. Das „Drehbuch“ zum Thriller stammt von der britischen Kriminalautorin Ethel Lina White (1876-1944). White hatte in den 30er und 40er Jahren einen ähnlichen Bekanntheitsgrad wie ihre Kollegin Agatha Christie. Ihre Werke wurden von solch namhaften Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder Lewis Allen verfilmt, „Die Wendeltreppe“ im Jahr 1945 von Robert Siodmak. In England wurden ihre Werke in den letzten Jahren wieder für das Theater entdeckt.
Man schreibt das Jahr 1916 in Neuengland. In einem kleinen Ort treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Er scheint es nur auf Frauen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen abgesehen zu haben. Ort der Handlung ist ein unheimliches Haus mit einer großen Wendeltreppe im Zentrum. Das Haus bewohnen die schwerkranke alte Mrs. Warren (Gabriela Reinitzer), ihre zwei Söhne in fortgeschrittenem Alter sowie einige Hausangestellte. Steve Warren (Marcel Schüler), der leibliche Sohn, kümmert sich kaum um seine bettlägerige Mutter, ist selbstgefällig und arrogant und offensichtlich ein Lebemann. Sein Halbbruder Professor Albert Warren (Ralph Dillmann) hingegen ist Mineraloge, höflich, gebildet, weltgewandt und stets um das Wohl seiner Stiefmutter bemüht. Helen (Sabrina Czink), ein herzensgutes, leider stummes Mädchen, pflegt die alte Dame aufopferungsvoll und hat die engste Bindung zu ihr. Blanche (Jennifer Flaczek), eitle Sekretärin und Steves heimliche Geliebte, hofft auf ein Ende der Heimlichkeiten und den gesellschaftlichen Aufstieg. Eine Krankenschwester und das Hausmeisterehepaar zählen ebenfalls zur bizarren Wohngemeinschaft.
Der Kommissar (Rainer Poser) ermittelt zu den vergangenen Morden und erscheint wiederholt im Haus der Warrens, um die Bewohner zu befragen. Dr. Parry (Dominik Gierscher), ein junger Arzt, ist ebenfalls regelmäßiger Gast –einerseits, um nach der alten Dame zu sehen, vielmehr aber, um seine geliebte Helen zu sehen. Der Zuschauer ahnt es bereits: Die schöne Helen mit ihrer Sprachbehinderung wird das nächste Opfer sein. Und der Täter gehört ihrem engsten Umfeld an. Sie fühlt sich verfolgt, ist verängstigt. Auch Mrs. Warren hat düstere Vorahnungen und fordert, dass Helen das Haus zu ihrem eigenen Wohl so schnell wie möglich verlässt. Dr. Parry möchte Helen zu sich nehmen, muss sie wegen eines Notfalls jedoch vorerst im Haus zurücklassen. Die Lage wird für Helen immer bedrohlicher.
Naturgemäß sind nicht alle filmischen Mittel Alfred Hitchcocks im Medium Theater anwendbar. Renate Renken konzentriert sich auf Stilmittel des „Großmeisters des Schreckens“, die auch auf der Bühne funktionieren und setzt diese in ihrer Inszenierung wirkungsvoll ein. Da ist zunächst das Spiel mit Licht und Schatten. Zu Beginn des Stücks erlöschen alle Lichter im Saal, er herrscht völlige Dunkelheit. Der Zuschauer ist durch die plötzliche Orientierungslosigkeit leicht verunsichert; zudem erzeugt die Dunkelheit Spannung. Die Intendantin setzt dieses Stilmittel zwischen jedem Szenenwechsel ein; es gleicht dadurch dem Filmschnitt.
Angelehnt an Hitchcock ist auch der Einsatz von Musik und Ton unter Leitung von Heike Pallas, die gleichzeitig als Pianistin mitwirkt. Zu Beginn des Stücks helfen die Klavierstücke anlässlich eines Tanztees dem Publikum, das Stück zeitlich zu verorten. Musik erzeugt und verstärkt Stimmung wie Spannung: vom Piano erklingt eben noch ein sentimentales „Somewhere over the Rainbow“, dann erfolgt ein abrupter Wechsel zu unheilschwangerer Musik. Ähnlich wie im Film kündigt düstere, bedrohliche Musik dramatische Szenen an.
Spiegel als ein weiteres typisches Motiv bei Hitchcock sind Symbol für doppelte oder gespaltene Persönlichkeiten. Da ist einerseits Blanche, die Sekretärin und Steves heimliche Geliebte, die von einer Karriere als Sängerin träumt und im ständig gezückten Taschenspiegel ihr zweites Ich und ihren unerfüllten Traum erblickt. Steve Warren, aalglatt, stellt seine Eitelkeit vor einem großen Standspiegel zur Schau. Alles deutet darauf hin, dass Steve eine finstere zweite Seite besitzt. Typisch hitchcocksche Figuren sind außerdem die trotz Krankheit dominante Mutter oder der unterhaltsame aber eher dilettantische Polizist. Zum Einsatz kommen auch flackerndes Kerzenlicht, ein (wiederholt) unerklärlich geöffnetes Fenster, durch das der Wind pfeift oder das herannahende Unwetter, das ein großes Unheil erwarten lässt.
Die Inszenierung erzeugt mit einfachen Mitteln eine hohe dramatische Spannung: in Erwartung des offenbar unvermeidlichen Mordes durch den Hauptverdächtigen fiebert das Publikum dennoch bis zur letzten Minute mit, ob Helen dem Mörder noch entkommen wird. Hitchcock wurde oft als Meister eines solch weit gefassten Spannungsbogens („Master of Suspense“) bezeichnet.
Der Ankündigungstext der Neuen Bühne trifft es also genau.
Anna Hinrichsen
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