Die Ausstellung „Ich“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn nimmt das Selbstportrait in Zeiten des „Selfie“ aufs Korn.
Den Namen der Ausstellung ist zu lesen als „Ich“ mit einem waagerechten Strich durch alle drei Buchstaben. Der Schriftsatz dieser Webseite erlaubt diese Darstellung leider nicht. Dieser Strich will einerseits die narzisstische Seite der Selbstschau beleuchten und andererseits die Bedeutungsschwere dieser Subjektivität unterlaufen, wenn nicht aufheben.
Das Selbstportrait war über Jahrhunderte eine zentrale Gattung der darstellenden Kunst. Der Künstler selbst war nicht nur das preiswerteste Modell, man konnte ihm auch beliebig lange Sitzungen verordnen. Neben diesen rein praktischen Gesichtspunkten spielte jedoch die Selbsterforschung eine ebenso große Rolle. Maler führten lange Zeit ein prekäres Dasein, und für manchen gilt das auch heute noch. So mussten sich die Künstler permanent mit sich und ihrer Stellung zur Welt auseinandersetzen. Als extremes Beispiel sei hier nur Vincent van Gogh genannt, der über dieser Auseinandersetzung fast den Verstand verloren hätte. Die malerische Beschäftigung mit dem eigenen Ich führte denn auch zu vielen Selbstportraits, die den seelischen Zustand des jeweiligen Künstlers wiedergeben. Das Selbstportrait war für viele Künstler sozusagen die Stunde der Wahrheit.
Mit der Einführung der Fotografie erfolgte der erste Bruch, weil jetzt die handwerkliche Kunst der naturgetreuen Wiedergabe an Bedeutung verlor. Die Künstler reagierten darauf mit Reduktion bis hin zur Abstraktion, während gleichzeitig in der Fotokunst eine neue Gattung des Selbstportraits entstand. Nun spielten das Einfangen von Licht und Schatten sowie die gekonnte fotografische Komposition eine ähnliche Rolle wie vormals in der Malerei. Die Kosten für gute Kameras und Filme sowie der Flaschenhals der Kunstzeitschriften und Ausstellungen führten zu einer gewissen Selbstregulierung des Marktes, so dass gute Fotokunst nicht im allgemeinen Rauschen unterging.
Das hat sich mit den sozialen Netzen im Internet sowie den Smartphones dramatisch geändert. Selbstportraits in Gestalt von „Selfies“ überschwemmen heute den (Internet-)Markt und lassen den Stellenwert des Selbstportraits stetig schrumpfen. In Facebook werden nicht nur Katzenfotos und -videos sondern vor allem Selbstbildnisse aller Schattierungen verbreitet. Hier findet ein weltweiter Verdrängungswettbewerb des Narzissmus statt, der im Bewusstsein der breiten Bevölkerung längst den Platz des bildungbürgerlichen Kunstsinns eingenommen hat.
Die Künstler als Seismographen gesellschaftlicher Umbrüche spüren diese Vorgänge auf doppelte Weise: einmal als Bürger mit und ohne Facebook-Konto, mit und ohne Smartphone, aber auch als Künstler, deren Selbstverständnis durch die neue Bilderflut herausgefordert wird. Sie antworten in dieser Ausstellung auf ihre Weise. Dabei reichen die Reaktionen von Ratlosigkeit über Ironie und Sarkasmus bis hin zu einer offensiven Übernahme des neuen Modells.
Ratlosigkeit spiegelt sich etwa in den Selbstportraits eines Künstlers, der den Umriss seines Kopfes mit Krakeln und Schwärzungen ausfüllt und damit das Selbstpotrait ad absurdum führt. Ein anderer lässt aus einem senkrechten Pappkarton zwei Beine in Jeans auf dem Boden enden, ein dritter wiederum stellt – als Gegenstück zum üblichen „Selfie“ – nur einen behosten Unterkörper mit Beinen auf den Boden, damit dem Portraitierten die Individualität raubend. Auf einem anderen Künstler-„Selfie“ hat dieser sich selbst beim Herabsteigen auf einer Treppe fotograffiert, wobei man nur den Körper und die Treppe, nicht aber den Kopf sieht. Ein Künstler hat sich sogar als antike Büste portraitiert, dabei jedoch – wie bei vielen antiken Satuen üblich – die Nase abgebrochen. auch dies ist ein bewusster Akt der „Entindividualisierung“, wie ihn die Bilderstürmer des Mittelalters aus religiösen Gründen am antiken Erbe vollzogen.
Die Strategie einer gezielten Übernahme der totalen Netztransparenz verfolgt ein Künstler dadurch, dass er in einem Video permanent mit dem Zeigefinger auf den Zuschauer zeigt, ein anderer, indem er seinen Alltag nahtlos mit einer am Körper fixierten Kamera filmt und ihn mit Gedankensplittern im Untertitel kommentiert. Ein Dritter wiederum veröffentlicht seinen gesamten Kommunikationsalltag auf einem überdimensionierten Smartphone, das einen ganzen Stand am Ende der Ausstellungsfläche einnimmt.
So geht jeder Künstler auf seine Weise mit dem Bildersturm im Internet um, wobei die bittere Ironie und der Sarkasmus überwiegen. Leichten Humor wird man hier nicht finden, aber die Situation ist ja auch nicht gerade witzig, wie der Normalbürger täglich und stündlich bei öffentlichen Anlässen aller Art feststellen kann. Wahrscheinlich wird es nach der Eröffnung dieser Ausstellung auch und gerade vor diesen kritischen Arbeiten viele Selfies geben – eine wahrhaft doppelte Volte der Ironie.
Die Ausstellung ist vom 10. März bis zum 29. Mai 2016 geöffnet. Näheres erfahren Sie über die Webseite der Kunsthalle Schirn.
Frank Raudszus
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