Das Hessische Staatsballett präsentiert in dem Programm „Spannweiten“ drei Produktionen internationaler Choreographen.
Das klassische Ballett erzählt Geschichten in Form des Tanzes, so etwa bei dem Klassiker „Schwanensee„. Auch das moderne Tanztheater geht oft von einer konsistenten Erzählung aus, die es durch zeitgenössische Körpersprache interpretiert. Dabei wird die Geschichte oftmals so stark abstrahiert, dass man sie nur noch in Kenntnis der Handlung aus der Choreographie nachvollziehen kann. Die konsequente Fortsetzung dieser Reduktion besteht darin, ganz auf das narrative Element zu verzichten und nur noch punktuelle Situationen sowie die daraus entstehenden Gefühle und Befindlichkeiten in Tanz umzusetzen. Dies ist der Fall in den drei Choreographien, die das Hessische Staatsballett unter dem Titel „Spannweiten“ präsentiert.
In der ersten Produktion der Kanadierin Crystal Pite mit dem Titel „Ten Duets on a Theme of Rescue“ geht es im weitesten Sinne um Rettung. Dahinter steht jedoch keine konkrete Geschichte, etwa die aktuelle Flüchtlingskrise, sondern „nur“ die Situation eines hilfebedürftigen Menschen, der nach der rettenden Hand sucht und sie auch findet. Daher ist das Duett die tragende und treibende Konstellation dieser Produktion. Ein durchgängiger Disconebel wallt über die gesamte Bühne und sorgt für eine im wahrsten Sinne des Wortes undurchsichtige Gefahren heraufbeschwörende Atmosphäre. In diesen Nebelschwaden tanzen wechselnde Paare Situationen existenzieller Hilflosigkeit und einer spontanen oder auch zögerlichen Rettung. Ein Teil des Paares ist hinfällig, leidend oder in akuter Gefahr, der andere Teil tritt als Retter auf und stabilisiert den Gefährdeten. Das ist jedoch nie auf eine konkrete Alltagssituation bezogen, sondern auf den Kern der existenziellen Situation reduziert. Lediglich die Körpersprache signalisiert Not und rettende Hilfe. In einem Fall schreitet eine Tänzerin langsam über die leere Bühne, während hinter ihr ein Tänzer verzweifelt auf der Stelle tritt bei dem Versuch, ihre Hand zu fassen. Kaum ist dies gelungen, trennen sich die Hände wieder, und die verzweifelte Aktion beginnt von Neuem. Auf ähnliche aber jeweils andere Weise laufen die anderen Duett-Szenen ab, bei denen die Partner noch während der Figuren wechseln und nahtlos in die nächste Szene tanzen.
Die zweite Choreographie stammt von dem Tschechen Václav Kuneš und trägt den Titel „Phantom Danceone„. Dieser Titel ist insofern treffend, als die Aussage tatsächlich sich einer konkreten Interpretation wie ein Phantom entzieht. Hier spielt die Musik von Owen Belton eine zentrale Rolle, ja: in Ermangelung eines konkreten Themas dominiert sie die Choreographie. Dichte, insistierende elektronische Klangfelder und ein stetig vorwärts drängender Rhythmus schaffen eine bedrohliche Atmosphäre, in der eine Gruppe von fünf Tänzern und Tänzerinnen zu überleben versucht. Eine L-förmige Wand in der linken hinteren Bühnenecke stellt auf ambivalente Weise sowohl einen Schutz als auch eine Bedrohung dar. Anfangs kauern sich die Tänzer in die Ecke dieses „L“, um sich dann aus diesem klammernden Schutz zu befreien. In der Freiheit der leeren Bühne sind sie dann allein, klammern sich aneinander und kreisen eng umschlungen umeinander, um sich dann wieder zu trennen und nach vereinzeltem Umherirren wieder zusammenzufinden. Ein Seil, das plötzlich in dem „L“ vom Bühnenhimmel fällt, aber weiterhin den Weg nach oben weist, steht wie ein metaphorisches Mahnmal für den Ausweg aus der menschlichen Misere im Raum. Am Ende wird ein Tänzer den Versuch wagen, an diesem Seil nach oben zur Erlösung zu klettern. Auf halber Höhe fällt der Vorhang.
Die dritte und letzte Choreographie hat der Spanier Cayetano Soto erstellt und sie „Twenty Eight Thousand Waves“ genannt. Auch hier spielt die Musik von Bruce Dessner und David Lang eine dominierende Rolle. Der „A capella“-Gesang mehrerer Frauenstimmen erinnert entfernt an spirituelle Gesangsformen – etwa frühe Kirchengesänge – und erzeugt mit den ostinaten Motive eine insistierende, suggestive und transzendentierende Atmosphäre. Dazu tanzt eine Gruppe von Tänzern mit nackten Oberkörpern und kiltartigen Röcken, während die Tänzerinnen in transparenten weißen Blusen dazu das ästhetische Gegenstück bilden. Punktuelle Lichteffekte und Beleuchtungswechsel verleihen der Choreographie einen fast surrealistischen Charakter. Tänzer und Tänzerinnen setzen in engem Zusammenspiel die spirituelle Musik in umeinander kreisende, dann wieder sich öffnende, insistierende und spannungsgeladene Figuren um. Die Intensität liegt hier nicht im Expressiven und Extrovertierten, sondern in einer höchst kontrollierten Introvertiertheit. Auch hier lässt sich keine konkrete oder gar vordergründige Aussage destillieren. Sie ergibt sich buchstäblich als eine Art ritueller Körpersprache, die aus einer spirituellen Steigerung entspringt.
Alle drei Choreographien wurden mit höchster Konzentration, Körperspannung und Präszision getanzt und schlugen das Publikum sichtlich in ihren Bann. Und so fiel am Ende der Beifall nicht nur freundlich sondern kräftig und teilweise begeistert aus. Diese Produktion ist auf jeden Fall einen Besuch wert, auch einen zweiten oder gar dritten.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Bettina Stöß
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