Die „arabische“ Antwort auf deinen Klassiker der Weltliteratur
Um dieses Buch zu verstehen, muss man ein anderes gelesen haben: Albert Camus´ berühmten Roman „Der Fremde“ aus den frühen vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Denn Daouds Buch ist eine direkte Antwort auf dieses epochale Werk und bezieht sich auf kritische Weise in fast jedem Satz auf es.
In diesem Buch entwirft der knapp dreißigjährige Camus zum ersten Mal sein Konzept des „absurden“ Daseins. Demnach gibt es kein dem Menschen extern vorgegebenes Wertesystem wie die Religion. Der Mensch kann keine äußere Wertsetzung erwarten sondern muss jeden Lebenssinn aus seiner eigenen Individualität entwickeln. Camus hat dieses Konzept später in Büchern wie dem „Mythos von Sisyphos“ philosophisch konkretisiert. Im „Fremden“ führt der kleine Angestellte und Algerien-Franzose Meursault ein nichtssagendes Leben ohne jeglichen Antrieb. Die von seinem Chef angebotene Karriere lehnt er – wegen fehlenden Sinns – ab, die Nachbarn kennt er nur vom Vorbeigehen, und Freunde besitzt er nicht. Der erste Satz des Romans: „Heute ist Mama gestorben.“ ist paradigmatisch und metaphorisch zugleich und könnte auch heißen „Heute ist Gott gestorben“. Denn die Mutter, die sonst dem Menschen als das Wichtigste gilt, spielt in seinem Leben keine Rolle mehr, nachdem er sie buchstäblich ins Altersheim abgeschoben hat. Die Beerdigung bringt er eher als Pflichtaufgabe hinter sich. Als er die hübsche Marie kennenlernt, geht er eher aus Langeweile eine Liaison mit ihr ein, hegt jedoch keine tieferen Gefühle für sie, und als ein zufälliger Bekannter ihn bittet, ihn bei der Abstrafung seiner arabischen Freundin zu helfen, willigt er sofort ein. Als es deswegen zu einer Rangelei mit einem männlichen Verwandten kommt, erschießt Meursault diesen am Strand ohne triftigen Grund. Die Hitze, eine diffuse Abneigung gegen den „Araber“ und eine existenzielle Skepsis gegenüber allen „höheren“ Werten spielen bei dieser Tat eine Rolle. Doch Camus geht es offensichtlich darum, darin das Absurde und Zufällige des Lebens darzustellen, das jeglicher Steuerung seitens höherer Instanzen entbehrt. So wehrt sich Meursault auch bei dem anschließenden Prozess kaum, fällt seinem Anwalt in den Rücken und liefert sich durch ehrliche aber tödliche Aussagen selbst ans Messer. In gewisser Weise versteht er seine Ankläger und entwickelt auch erst nach seiner Verurteilung zum Tode so etwas wie Todesangst und Hoffnung auf Begnadigung. Für den Tag seiner Hinrichtung wünscht er sich im letzten Satz viele hasserfüllte Zuschauer.
Der getötete „Araber“ ist bei Camus nur ein dramaturgischer Statist, der sterben muss, damit der Autor sein Bild des Absurden entwickeln kann. Daher trägt er auch keinen Namen. Man kann dies durchaus als eine Nichtachtung ansehen, obwohl diese offensichtlich nicht vorlag, da Camus bereits in den dreißiger Jahren engagiert für die Gleichberechtigung und die vollen Bürgerrechte der Algerier eintrat. Wie bei einem heutigen Krimi brauchte er den Mord als Ausgangspunkt für die Ausgestaltung seines Protagonisten.
Doch genau diese Namenlosigkeit des Opfers ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Romans. Dessen Protagonist, ein alter Mann, erzählt einem jungen Franzosen in einer Bar an selbigem Strand sein Leben. Der alte Mann war der kleine Bruder des Mordopfers und sein Leben lang mit der Wut und der Hilflosigkeit der Mutter konfrontiert, die nie etwas Konkretes über den Mord erfuhr und ihren Sohn auch nie beerdigen konnte. So baute sie den kleinen Jungen unbewusst als zukünftigen Rächer auf, der sich dieser engen psychischen Klammer nicht erwehren konnte. Nachdem er – Mutter und Bruder waren Analphabeten – Französisch gelernt hatte, erfuhr er die Details des Mordes und trägt seitdem die Schande des anonymen und somit demütigenden Todes seines Bruders mit sich herum.
In diesem Erzähler und seiner Geschichte vermischt Daoud höchst kunstvoll die Ebenen von Fiktion und Realität. Der alte Mann rekapituliert nicht nur die auch von Camus detailliert beschriebenen Ereignisse, sondern er betont auch immer wieder den Ruhm, den der „Mörder“ – also Meursault! – mit seinem durchaus genial geschriebenen Buch erzielt hat. Daoud setzt also Camus mit Meursault gleich. Das tut er natürlich nicht aus der Naivität einer Unbildung oder gar aus einem unreflektierten Hass gegenüber dem Autor heraus, sondern er wählt diesen Ansatz bewusst als literarisches Stilmittel. Camus ist Meursault ist Camus, und Moussa – so der Name des „Arabers“ – ist in gewisser Weise gleichzeitig sein die Geschichte erzählender Bruder, der sich mit gemordet fühlt. Durch dieses Stilmittel bezieht Daoud Camus in dessen eigenen Roman als Urheber und Täter mit ein und weist ihm sozusagen eine rassistische Untat nach, da er den Ermordeten aus eurozentrischem Desinteresse anonym sterben lasse. Im ersten Teil beklagt Daoud in Gestalt seines Erzählers die Erniedrigung der arabischen Welt durch die um sich selbst und ihre Luxusprobleme kreisende europäische Kultur – speziell die Literatur. Schon hier erkennt man jedoch die kunstvolle Parallelität zu Camus´ Roman: so wie Meursault hat auch der Erzähler ein gebrochenes Verhältnis zu seiner Mutter, deren Gedanken nur noch um den ermordeten Sohn kreisen und die dessen Bruder unbewusst als schuldig betrachtet. Wie Meursault hat auch er den Glauben an Gott verloren und glaubt nur an die Gegenwart und den abendlichen Wein, den er als Moslem gar nicht trinken dürfte. Wie Meursault ist der Erzähler entwurzelt und sieht keinen Sinn im Leben außer den, seinen Bruder zu rehabilitieren. Insofern vollzieht Daoud die Philosophie des französischen Autors in seiner eigenen „Gegendarstellung“ nach.
Das zeigt sich noch deutlicher im zweiten Teil, in dem Daoud das Thema Camus´ wie in einer musikalischen Fuge in einer anderen Lage neu aufnimmt. Als junger Mann hat auch er – der Erzähler – im Zuge der Wirren des Unabhängigkeitskrieges einen Franzosen erschossen – nur, weil dieser sich in das Haus von Mutter und Sohn flüchtete. Ein ebenso sinnloser Mord wie der an seinem Bruder. Auch er kam dafür ins Gefängnis, aber nur, weil er zum falschen Zeitpunkt gemordet hatte. Man verzieh ihm auf Seiten der Revolution nicht, dass er nicht wie andere junge Männer in den Widerstand gegangen war. Doch das hatte er eben gerade deswegen nicht getan, weil der anonyme Mord an seinem Bruder ihm jeden Glauben an die Sinnhaftigkeit der Welt genommen hat, speziell den Glauben an die Revolution und Unabhängigkeit. So stellt sich am Ende heraus, dass Daouds „Gegendarstellung“ eigentlich gar keine ist, denn sein Held nimmt fast die selbe Entwicklung wie der des angeklagten französischen Dichterphilosophen. Die nur scheinbar ironische Bewunderung dessen genialen Stils erweist sich mit zunehmendem Fortschreiten des Buchs als echte Verwandtschaft im Geiste, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich der Erzähler gerade mit seinen Ausfällen gegen Meursault alias Camus gegen seine eigene, zunehmende Übereinstimmung mit dessen Philosophie wehrt. Und so endet die wortreiche Suada des Erzählers mit dem Satz, dass auch er sich bei seinem Tod viele hasserfüllte Zuschauer wünsche.
Das Buch ist eine so fulminante wie kritische Auseinandersetzung mit der Camusschen Philosophie, die bei aller – durchaus nachvollziehbaren – Frustration über die jahrzehntelange Nicht(be)achtung der arabischen Welt durch die europäische gleichzeitig eine tiefes Verständnis für die Weltsicht des französischen Schriftstellers zeigt. Die philosophischen und strecken weise fast absurden Verschachtelungen und Ebenenwechsel fordern die ganze Aufmerksamkeit des Lesers. In gewisser Weise liest sich dieses Buch wie eine ausgefeilte Kriminalgeschichte, nur auf einem anderen Niveau.
Das Buch ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, umfasst 200 Seiten und kostet 17,99 Euro.
Frank Raudszus
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