Ein neurobiologisches Plädoyer für die Eigenverantwortung des Menschen.
Der Autor ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut und hat bereits eine Reihe von Fachbüchern über verschiedene Themen seines Arbeitsbereichs verfasst. In dem vorliegenden Buch greift er die Diskussion über den „freien Willen“ auf, die vor etwa einer Dekade anlässlich des Buchs „Mind Time“ von Benjamin Libet entstand. Libet hatte anhand wissenschaftlicher Experimente starke Indizien dafür gefunden, dass menschliche Handlungen außerhalb des aktiven Bewusstseins vom Nerven- und Muskelsystem des Menschen automatisch auf der Basis externer Signale ausgeführt werden. Bevor Joachim Bauer seine eigenen Thesen ausbreitet, setzt er sich mit Libets Buch auseinander und widerlegt dessen Thesen in einer fast zehnseitigen Anmerkung mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Interpretation und Gesinnungsethik, die ihm zwar hoch anzurechnen ist, aber wissenschaftlich nicht überzeugt. Einerseits kann und will er die von Libet gemessenen Fakten nicht leugnen, andererseits ist er nicht bereit, die vermeintlich zwingende Konsequenz der Ausschaltung des freien Willens hinzunehmen. Außerdem bezieht er seine Kritik nur auf den bewussten Handlungsimpuls, nicht aber auf den reaktiven Teil von Libets Experimenten, der ebenso brisant ist.
Doch diese Kritik ist im Grunde genommen zweitrangig, da Libet selbst aus seinen Messungen nicht den Tod des freien Willens gefolgert und selbst Theorien über „Veto-Rechte“ des Bewusstseins entwickelt hatte, um den Ausschluss des freien Willens zu vermeiden. Wie immer man Libets Forschungen bewertet: ihre Aussagekraft reicht nicht für eine so weitreichende Behauptung auf, da sie selbst zwar einige logische Probleme aufwerfen, aber nicht den von einigen Libet-Anhängern postulierten Tod des freien Willens zwingend zur Folge haben.
Abseits dieser wissenschaftlichen Kämpfe um Reaktionszeiten im Millisekundenbereich entwickelt Bauer ein eigenes System, in dem es zwar widerstreitende Kräfte um den freien Willen, aber keine deterministische Lösung gibt. Dazu stützt er sich ebenfalls auf den Erkenntnissen der Hirnforschung ab. Diesen zufolge gibt es im menschlichen Gehirn zwei aufeinander aufbauende Systeme: das Basissystem, das sozusagen „bottom-up“ für Belohnungen, Flucht und Aggressionen zuständig ist, und den „präfontalen Cortex (PFC)“, der in der Lage ist, „top-down“ das Basissystem zu kontrollieren. „In der Lage sein“ bedeutet jedoch nur, dass die genetischen Voraussetzungen geschaffen sind, das PFC diese Aufgabe nicht automatisch durchführt. Dazu muss es richtiggehend trainiert werden, so wie ein Sportler ein vorhandenes Talent durch stets Training in Können umsetzen muss.
Dieses Training nennt man, wie Bauer unmissverständlich zu verstehen gibt, in der Umgangssprache auch „Erziehung“. Daher besteht Bauer darauf, dass Kinder von Beginn an lernen müssen, auf die sofortige Befriedigung eines Bedürfnisses zwecks langfristiger „höherer“ Gewinne zu verzichten. Wer diese elementare Askese nicht erlernt, gibt sich schnellen Bedürfnisbefriedigungen hin. Das jedoch schädigt nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen wiederum die Leistung des PFC, so dass ein solcher Mensch in einem „circulus vitiosus“ von Abhängigkeit und Willenlosigkeit versinkt. Suchtkrankheiten – Alkohol, Nikotin, Drogen – und Fettleibigkeit mit all ihren Auswirkungen sind die Folge. Bauer redet hier offensichtlich nicht aus theoretischer Sicht sondern aus der Praxis, die uns in vielen Ausprägungen nur zu vertraut ist.
Von dieser wissenschaftlichen Ausgangsbasis entwickelt Bauer sein Konzept der Selbststeuerung, die nicht mit Selbstkontrolle zu verwechseln ist. Letztere ist vielmehr eine Voraussetzung für erstere. Nur wer über Selbstkontrolle verfügt, kann eine bewusste Selbststeuerung entwickeln. Bauer geht detailliert auf die pädagogischen Aspekte ein, unter anderem die sozialen Einflüsse von Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen. Aufschlussreich ist seine explizite Forderung nach einer „dyadischen Beziehung“ für Kinder unter zwei Jahren, was deutlich gegen Kinderkrippen spricht, ohne dass er diese Einrichtung offen kritisiert. Ganztagsschulen sind für ihn jedoch „Aufbewahrungsorte statt Treibhäuser für die Zukunft“.
Aktive Selbststeuerung beinhaltet für Bauer auch ein Schwimmen gegen den „Mainstream“, denn schnelle Bedürfnisbefriedigung erfolgt oft unter dem Druck der Umwelt, die sich durch jegliche Art der Askese kritisiert fühlt. Dabei spielen für ihn auch die Medien eine Rolle, nicht nur als manipulatives Element sondern vor allem als Suchtmittel – siehe Smartphone oder Internet. Begriffe wie „Priming“ und „Spiegelneuronen“ werden im Zusammenhang gruppendynamischer Prozesse einschließlich ihrer verführerischen Wirkung erklärt.
Als Mediziner kommt Bauer natürlich auch auf seine eigenen Kollegen zu sprechen. Die Schulmedizin sucht für ihn viel zu wenig das Gespräch mit dem Patienten. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die Psyche die körperlichen Vorgänge entscheidend beeinflussen kann. Wir alle kennen Redewendungen wie „Er kämpft gegen den Tod“ oder „Er hat aufgegeben“. Diese sind laut Bauer jedoch keine Worthülsen sondern geben den Sachverhalt exakt wieder. Über den Präfontalen Cortex wird eine große Zahl von Körperfunktionen gesteuert, unter anderem auch der Kampf gegen Viren und Tumore. Patienten, die vom Arzt mental positiv eingestellt werden, haben wesentlich größere Chancen als solche, denen nur eine Medizin verabreicht wird. In diesem Zusammenhang führt Bauer viele positive Beispiele von unerwarteten Heilungen oder Verbesserungen sowie die traurigen Gegenbeispiele auf.
Zum Schluss appelliert er an das Gesundheitsbewusstsein jedes Einzelnen, zum Beispiel seiner Leser. Eine gesunde Ernährung – ohne Alkohol, Nikotin und Fleisch(!) -, ausreichend Bewegung und vor allem befriedigende soziale Beziehungen gehören zu den Elementen einer gelungenen Selbststeuerung, die nicht nur das Leben verlängert, sondern auch das Gefühl eines gelungenen Lebens vermittelt. Wer jedes Bedürfnis sofort stillt, stärkt das Basissystem und schwächt den PFC und benötigt jedes Mal stärkere Belohnungssignale, um sie noch als befriedigend zu erfahren, was letztlich zu dauernder Unzufriedenheit führt. Wer jedoch die Mühen der Selbststeuerung einschließlich gewisser asketischer Elemente auf sich nimmt und erfolgreich besteht, erfährt schon allein durch dieses Erfolgserlebnis Selbstbestätigung und Selbstbewusstsein.
Joachim Bauer hat mit diesem Buch keinen „Lebensratgeber“ geschrieben, sondern ein wissenschaftlich anspruchsvolles Sachbuch, das sowohl die intellektuellen Fähigkeiten des Lesers als auch dessen Bereitschaft zur Einsicht von Erkenntnissen fordert, die nicht immer mit dem Alltag und den Wünschen des Einzelnen harmonieren. Das Buch ist liefert neben Erkenntnisgewinn auch eine gehörige Portion von Anstößen zur Überprüfung des eigenen Lebensmodells.
Das Buch „Selbststeuerung“ ist im Blessing-Verlag erschienen, umfasst 238 Seiten einschließlich gut 60 Seiten Literaturverzeichnis, Anmerkungen und Register und kostet 19,99 Euro.
Frank Raudszus
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