Das Staatstheater Darmstadt nähert sich mit dem Einakter „Invasion!“ der Lebenswelt heutiger Jugendlicher.
Der Spielplan des Staatstheaters Darmstadt weist dieses Stück des schwedisch-tunesischen Schriftstellers Jonas Hassen Khemiri als für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet aus. Damit signalisiert das Theater unmissverständlich, dass es speziell Jugendliche mit diesem Stück über Migrationsprobleme und Abneigung gegen Ausländer (um das Wort „Hass“ einmal auszublenden) ansprechen will. Die Kammerspiele als eher ungezwungener Ort ohne die Hemmschwelle der „Bildungsanstalt“ eignen sich daher besonders für diese Form des Theaters. So verwundert es an diesem Abend auch nicht, dass vor allem Jugendliche zwischen zwölf und zwanzig die Zuschauerreihen bevölkern, die sich als Stuhlreihen an beiden Seiten der fast leeren Bühne entlangziehen. Kein Frontalspiel, kein Guckkasten, keine aufsteigenden Tribünen (mit guten und weniger guten Plätzen).
In den letzten Minuten vor Beginn schlendern noch zwei Migranten-Klischees in Trainingshosen und Turnschuhen mit Händen in den Taschen herein und nehmen mit leicht provozierender Haltung Platz in der ersten Reihe. Die Nachbarn schauen etwas skeptisch, und nur regelmäßige Theatergänger erkennen in einem von ihnen den Schauspieler Nicolas Fethi Türksever. Das Licht erlischt, ein Paar in klassischen Kostümen erscheint und beginnt, ein Liebesdrama in gestelzten Versen zu deklamieren. Man kann sich die Irritation bei den Jugendlichen vorstellen, und prompt beginnen die beiden „Migranten“, mit provozierenden bis dreisten Zwischenrufen die Aufführung zu stören. Ein ärgerlicher Zischlaut aus dem Publikum kann ernst gemeint, aber durchaus auch inszeniert sein, denn schnell wird klar, dass hier das eigentliche Stück beginnt. Nachdem die Vers-Rezitatoren unter empörtem Protest die Bühne verlassen haben, stehen die beiden Provokateure etwas dümmlich in der Gegend herum und beginnen den typischen verbalen Schlagabtausch zwischen zwei gelangweilten „jugendlichen Mitbürgern mit Migrationshintergrund“, dessen einzelnen Aussagen meist mit der Redewendung „He, Alter“ oder „verstehst du?“ beginnen oder enden. Dazu geben sie ihrem Bewegungsdrang durch mehr oder minder artistische Einlagen Raum. Nicolas Fethi Türksever ist ein Meister des „street sport“, und Frederick Bott assistiert ihm bei diesem Auftritt mit verbalen Volten. Die beiden spielen alle Situationen durch, die jungen Migranten auf der Straße so widerfahren: sich gegenseitig als „coole Typen“ überbieten, die Bierflasche schwenken und – natürlich – die Mädchen anmachen. Dabei lassen die beiden kein Klischee aus und hauen kräftig auf die Pauke. Schnell wird klar, dass sie dem Publikum auch die eigenen Vorurteile um die Ohren hauen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, wenn Arvind (Nicolas Fethi Türksever) ein allein in der Bar sitzendes Mädchen (Yana Robin la Baume) „anbaggert“ und dabei schmählich scheitert. Aus seiner Sicht ist die Werbung jedoch erfolgreich, da sie ihm eine Telefonnummer auf den Arm kritzelt. Später wird man die selbe Szene aus ihrer Sicht ganz anders erleben und die Telefonnummer als bloße Ziffernfolge entlarven.
Bei ihren verbalen Fantasien fällt der Begriff „Abulkasem“, den Arvind als Namen eines fiktiven aber äußerst „coolen Typen“ erfunden hat, der sich aber verselbständigt und selbst den Begriff der „Coolness“ un der Überlegenheit angenommen hat. In einer Art Identifikation mit dieser Wunschvorstellung gibt sich Arvind gegenüber der jungen Frau diesen Namen und setzt somit das Räderwerk der Handlung in Bewegung.
Die beiden Darsteller des Versdramas (Yana Robin la Baume und Florian Federl) erscheinen in anderen Rollen wieder auf der Bühne, und Federl spielt einen Fernsehmoderator, der drei eitle Selbstdarsteller über Migrationsprobleme befragt. Diese „Talkshow“ bietet wieder viele Möglichkeiten für kräftige Vorurteile, „schlaue“ Meinungen und kräftige Klischees. Später wird Arvin die Telefonnummer der jungen Frau anrufen und dabei zufällig einen illegalen Immigranten erreichen, der mit seinen rudimentären Deutschkenntnissen nicht erfasst, worum es geht, nur den Namen „Abulkasem“ aufschnappt und wiederum damit hausieren geht. Dass damit eine gewisse Handlungskette beginnt, die dem Stück eine minimale Struktur verleiht, ist im Grunde genommen zweitrangig, weil es nicht um die Erzählung einer konsistenten Geschichte geht. Vielmehr geht es um die Befindlichkeit junger Menschen, die ihre eigene Identität noch nicht gefunden haben und verzweifelt nach Sinngebung suchen, wobei die Verzweiflung natürlich auf keinen Fall offenkundig werden darf. Also laute, selbstsichere Töne. Als Gegenstück zu den Migrantenfiguren tritt Yana Robin la Baume als die strebsame Studentin aus gutem Hause auf, die jedoch unter ähnlichen – wenn auch anderen – Identitätsproblemen leidet und sich mit emotionalen Schüben – Sch…! F…! F…! – Luft verschafft.
Am Ende treten dann alle Darsteller noch einmal in grotesken Tierkostümen auf, deren Zweck nicht ganz klar wird (vielleicht Belustigung der Jüngeren?), und bringen in dieser lustigen Verkleidung noch ein paar bittere Wahrheiten über Flüchtlinge und andere Ausgegrenzte unter das Volk.
Das Stück überzeugt durch Tempo und Witz sowie durch eine glaubwürdige Affinität zur Welt der Jugendlichen. Man spricht ihnen sozusagen aus dem Herzen und biedert sich doch nicht bei ihnen an. Die vier Darsteller sind mit viel Engagement bei der Sache und wandeln sicher auf dem schmalen Grat zwischen moralischem Zeigefinger und purem Klamauk. Mit solchen Inszenierungen kann man tatsächlich die junge Generation ins Theater locken und vielleicht dort auch halten. Doch auch für Erwachsene lohnt sich der Besuch, denn bei diesen sollen ja auch noch einige festgefahrene Vorstellungen von der Welt der Jugendlichen und speziell der Migranten herrschen.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Robert Schittko
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