Das 4. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt führt in die Klangwelt der vorletzten Jahrhundertwende
Die Spätromantik stand an diesem Karnevalswochenende auf dem Programm des Staatstheaters Darmstadt. Dabei lässt sich eine Beziehung des Programms zur „fünften Jahreszeit“ daraus konstruieren, dass mit Richard Strauss´ Tondichtung „Till Eulenspiegel“ durchaus eine gewisse karnevalistische Grundstimmung einzog. Der Rest des Konzertprogramms bot jedoch keine entsprechenden Anknüpfungspunkte, sieht man einmal von den teilweise grellen Klängen ab.
Am Beginn stand die Komposition „Drip Blip Sparkle Spin Glint Glide Glow Flop Chop Pop Shatter Splash“ des US-Amerikaners Andrew Norman aus dem Jahr 2005. In diesem Orchesterstück deutet er den 13wortigen Titel musikalisch und klanglich. Unter „Drip“ etwa versteht man einen fallenden Tropfen, und den vernimmt man auch deutlich aus der Perkussionsecke. Nacheinander bildet Norman dreizehn klangliche Konstrukte, die den jeweiligen Charakter eines Begriffs zum Ausdruck bringen. „Sparkle“ wird dann zum silbrigen Sprühen, unter „Glide“ kann man sich das schrille Aufeinanderreiben von zwei Metallteilen vorstellen. Die einzelnen Vertonungen gehen dabei derart ineinander über, dass sich eine Trennung schwer durchführen lässt. Als Zuhörer nimmt man jedoch nacheinander immer wieder Elemente dieser akustischen Begriffskette wahr. Dabei schöpft Norman aus dem Vollen und setzt das gesamte, ausgesprochen kopfstarke Orchester ein, so dass einige Klangelemente die Trommelfelle und durchaus auch das harmonische Klangempfinden herausfordern. Das Ganze dauert jedoch nur wenige Minuten und verebbt dann wie eine klanglicher Spuk. In gewisser Weise setzt es jedoch die klanglichen Experimente der Spätromantik konsequent fort und schärft die harmonischen Kontraste, die Komponisten wie Richard Strauss bereits um 1900 herum eingeführt hatten. Dem Orchester unter der Leitung von GMD Will Humburg schien dieser „Klangspuk“ viel Spaß zu bereiten, waren sie doch mit viel Spielfreude bei der Sache.
Im zweiten Stück des Abends waren eher die weiten Bögen und raunenden Klänge gefragt. Jean Sibelius´ Violinkonzert d-Moll aus dem Jahr 1903 wird gerne mit der Weite der finnischen Landschaft assoziiert, eine programmatische Sicht, die viele Werke der Spätromantik auszeichnet. Nach dem aufklärerischen Gestus der Klassik und dem sehnsuchtsvollen der Frühromantik zog sich die Spätromantik in sich selbst zurück, bedauerte den durch die Industrialisierung verloren gegangenen Naturbegriff und schwelgte in den nostalgischen Träumen von rauschenden Wälder, weiten Feldern und sprudelnden Wassern. Das Programmatische wurde zwar in vielen Fällen nicht durch den Komponisten sondern von Kritikern und Publikum eingeführt, doch lag es den Komponisten sozusagen im Blut.
Jean Sibelius gehörte nicht zu den Neuerern der Musik und fühlte sich einem traditionellen, will sagen: tonalen Stil verpflichtet. Auch seine Heimatliebe und die Verehrung der nationalen Folklore sowie der Natur hat er nie abgestritten, ja sie sogar bewusst in Musik umgesetzt. Daher liegt es durchaus auf der Hand, seine harmonischen und melodischen Eigenarten im weitesten Sinne mit dem Begriff der programmatischen Musik zu beschreiben, auch wenn sie nicht eindeutig – wie etwa bei Smetanas „Moldau“ – bestimmten Naturereignissen zuzuordnen sind. Sein Violinkonzert besticht durch die eingängigen, ja fast schwerblütigen Melodiebögen, die beim Zuhörer unweigerlich die Assoziationen von Wehmut und Naturverbundenheit wecken. Wie im Violinkonzert des 19. Jahrhunderts üblich, spielt das Orchester auch hier eine wichtige, weit über das reine Begleiten hinausgehende Funktion und übernimmt immer wieder die von der Solovioline vorgegebenen Themen, um sie mit den eigenen klanglichen Mitteln umzuformen. Das Orchester wird hier zum unverzichtbaren Partner des Soloinstruments. Jeder Satz besteht aus eigenen, charakteristischen Themen, wobei die Violine im ersten Satz nach nur wenigen Takte über dem feinen Streicherteppich einsetzt. Während der zweite Satz – „Adagio di molto“ – fast elegisch zu bezeichnen ist, kommt der dritte als wilder „danse macabre“ daher und bietet der Solistin alle Möglichkeiten, ihr technisches Können zu beweisen. Die Niederländerin Isabelle van Keulen ist seit den 80er Jahren eine feste Größe im internationalen Konzertbetrieb und ist in den vergangenen Jahrzehnten mit den renommiertesten Orchestern und Dirigenten aufgetreten. In Darmstadt interpretierte sie Sibelius´ Violinkonzert nicht nur mit hoher technischer Perfektion, sondern vor allem mit einer herausragenden Musikalität, die besonders die tiefe Emotionalität dieser Musik zum Ausdruck brachte. Sie beherrscht sowohl die feinsten Töne in den höchsten Lagen als auch die tiefen Töne, die bei ihr fast das Timbre eines Cellos annehmen. Im letzten Satz brillierte sie mit virtuoser Technik, wobei ihr Spiel nie angestrengt sondern stets leicht und natürlich wirkte. Der kräftige Beifall des Publikums holte Isabelle van Keulen mehrmals auf die Bühne zurück, doch eine Zugabe war von ihr nicht zu erreichen.
Nach der Pause standen zwei Werke von Richard Strauss auf dem Programm: neben dem bereits erwähnten „Till Eulenspiegel“ die Tondichtung „Don Juan“, die den Reigen eröffnete und in der Strauss ein dramatisches Gedicht Nikolaus Lenaus vertont hat. Dieses Stück hat Strauss bereits im Alter von 24 Jahren komponiert, und darin schlägt sich die ganze Schaffenskraft und Energie des jungen Strauss nieder. Wenn man will, kann man Don Juans Liebe zu den Frauen als Metapher für Richard Strauss´ Liebe zur Musik deuten und Don Juans Siegeszug bei den Frauen als Verweis auf einen kommenden musikalischen Siegeszug des Komponisten sehen. Die Figur des Don Juan übt auf junge Männer auch „außererotisch“ durchaus eine Vorbildfunktion aus. Programmatisch ist die Musik in der Hinsicht, dass man einerseits das siegesgewisse Voranstürmen in der Musik nachvollziehen kann, aber auch die leisen Töne der gebrochenen Frauenherzen und die Gewissensbisse des Treulosen. Auch der gewaltsame Tod durch den Komtur – bei Lenau Don Pedro – lässt sich am Schluss in Strauss´ Musik nachvollziehen. Klanglich hat Richard Strauss gegenüber seinen Vorgängern der Romantik neue Seiten aufgeschlagen. Keiner vor ihm hat die unterschiedlichen Klangfarben der einzelnen Instrumenten(gruppen) derart konsequent herausgestellt und gegeneinander gesetzt. Strauss liebte die Reibung der Klänge und schuf damit neue Hörgewohnheiten, die noch zwanzig, dreißig Jahre vorher nicht denkbar gewesen wären.
Das gilt in gesteigertem Maße auch für „Till Eulenspiegels lustige Streiche“, op. 28. Denn hier bietet sich der clowneske Charakter der Titelperson geradezu an für ausgefallene Klangeffekte. Man stellt sich diesen Eulenspiegel gerne als ausgelassenen Gesellen im Harlekinskostüm vor, der von einem lustigen oder bösen Streich zum nächsten springt und dabei sowohl Konventionen sprengt als auch unangenehme Wahrheiten direkt ausspricht. Provokation – auch überspitzte – ist sein Geschäft, und diese Provokation lässt sich wunderbar in ausgefallenen Klangfarben ausdrücken. Strauss tut dies mit vielen Motiven der Bläser, kurzen, spitzen Sprüngen und motivischen Drehungen, die man unmittelbar als Sprünge und Provokationen des Protagonisten verstehen kann. Immer wieder durchbrechen diese klanglichen Einschübe den Lauf den musikalischen Geschehens, ja: stören dies förmlich, so wie Eulenspiegel die behagliche Ruhe der Bürger seiner Zeit störte. Die Quittung erhielt er mit der Gefangennahme und Hinrichtung, die Richard Strauss mit unverkennbarer Direktheit intoniert. Ein gewaltiger Schlag des gesamten Orchester markiert die Öffnung der Falltür unter den Füßen des Delinquenten; darauf folgt ein angedeuteter Trauermarsch, aus dem von neuem die bekannten Eulenspiegel-Motive auftauchen. Eulenspiegels rebellischer Geist bleibt seiner Mitwelt erhalten – so die „musikalische Moral von der Geschicht“.
Das Orchester zelebrierte diese beiden Strauss-Werke förmlich, wobei Will Humburg vor allem die klanglichen Effekte herausarbeitete. Es war ein Genuss, das souveräne Spiel der Blechbläser und das warm-verspielte der Holzbläser zu verfolgen. Die Oboen brachten ihren eigenen Klang ein, der vor allem im „Eulenspiegel“ einen frechen Ton einbrachte, und das Schlagzeug setzte dazu punktgenaue Akzente. Die Streicher lieferten dazu den präzisen wie transparenten orchestralen Unterbau, wobei die erste Violine sogar ein eigenes Solo besteuerte. Alle Instrumentengruppen befanden sich in Hochform und folgten dem wie immer aus dem gesamten Körper kommenden Dirigat von Will Humburg punktgenau.
Das Publikum zeigte sich begeistert und schickte das Orchester mit langem und kräftigem Beifall in den restlichen Sonntag.
Frank Raudszus
No comments yet.