Das Hessische Staatsballett hat die Geschichte von „Kaspar Hauser“ erfolgreich auf die Bühne gebracht
Aus guten Gründen hatte Chef-Choreograf Tim Plegge für diese Produktion unter anderem Musik aus Schuberts „Winterreise“ ausgewählt, ist doch deren erstes Lied mit „Fremd bin ich ausgezogen, fremd zog ich wieder aus“ übertitelt. Ebenso geht es dem jungen Kaspar Hauser, der als Halbwüchsiger nach jahrelanger Isolierung plötzlich der Gesellschaft ausgesetzt wird und an ihr zugrunde geht. Um diese seltsame Figur, die mit unterentwickelter Muskulatur und geringen Sprach- wie Schreibfähigkeiten im Jahr 1828 in Nürnberg auftauchte, rankten sich viele Gerüchte, unter anderem, er sein ein dynastisch ungewolltes Kind einer hochgestellten fürstlichen Dame, dass man nach der Geburt ausgetauscht und entfernt habe. Auch um seinen Tod, der nach Schnittwunden eintrat, gibt es mehr Theorien als Fakten. Eine lautet, die Entführer des kleinen Kindes hätten ihn umgebracht, weil er sich an zu viele Dinge aus seiner Kindheit erinnerte, die andere, er habe sich die Schnittwunden selbst beigebracht, um weiterhin die Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu erhalten.
Tim Plegge hat diese Geschichte in einer zweiaktigen Choreografie mit dem Hessischen Staatsballett auf die Bühne gebracht. Als Bühnenbild hat Sebastian Hank einen bewusst grob verpixelten Schwarzweiß-Abzug von Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp“ auf einer klappbaren Wand in Bühnengröße gewählt. Das Bild dient als Metapher auf die extensive medizinischen Tests, die Wissenschaftler aus „Wissensgier“ an dem armen Kaspar Hauser durchführten. Diese Bildwand lässt sich in verschiedenen Winkeln einklappen, womit eine leicht variierbarer Raumteiler entsteht. Auf der Rückseite ist diese Wand einfarbig angelegt und lässt sich durch Drehen der Drehbühne als Hintergrund für andere Szenen nutzen. Um diese Wand werden je nach Bedarf der Szene einzelne Möbelstücke – ein Bett oder eine Schaukel – platziert.
Plegge inszeniert Kaspar Hausers Geschichte weitgehend chronologisch. Tyler Schnese tanzt diese Rolle durch alle Szenen als Solorolle. Nur seine Kindheit, an die er sich schemenhaft erinnert, wird von dem kleinen Leander Menzel gespielt. Neben Tyler Schnese treten noch drei Tänzer auf, die als sein „Echo“ fungieren“. Jedes ihn beeindruckende Erlebnis tanzen sie in ähnlicher Form nach, wie er es erlebt. Wenn Kaspar Hauser zu Beginn kaum laufen kann und dies erst mühsam von seinem Entführer lernen muss, stellen die drei seine Probleme mit der körperlichen Bewegung tänzerisch nach, während Schnese selbst diese Schwierigkeiten etwas direkter als unmittelbar einsichtiges körperliches Unvermögen darstellt. Hier geht es auch um ein Stück dramaturgischen Realitätssinns, da Plegge offensichtlich nicht glaubt, dass man eine solche grundlegende Unfähigkeit nicht ästhetisch anspruchsvoll darstellen sollte. Das hindert Tyler Schnese jedoch nicht, im Anschluss an diese grotesken Steh- und Gehübungen durch dann fließende Bewegungen zu zeigen, dass er auch anders kann. Dabei sind auch schon seine ungeschickten Versuche von höchster körperliche Kontrolle geprägt. Man kennt dies von anderen Kunstgattungen: das Unvermögen zu spielen, ist nicht einfach – siehe Mozarts „Dorfmusikantenquintett“.
Schon bald nach seiner Entlassung in die Öffentlichkeit landet Hauser bei dem Ehepaar Daumer (Miyuki Shimizu und Igli Mezini) , das sich rührend um ihn kümmert und ihm auch emotionale Zuwendung bietet, ihn andererseits aber auch der Wissenschaft ausliefert. Hauser beginnt sich an eine Zeit an einem vornehmen Hof zu erinnern, was dramaturgisch geschickt dadurch verbildlicht wird, dass die Drehbühne langsam eine fröhliche Familienpartie mit Mutter, Kind (er selbst), Verwandschaft und sogar einer Schaukel in den Vordergrund rückt. Diese Erinnerungen an seine Kindheit flackern wie ein Leitmotiv immer wieder während der Aufführung auf.
Eine so zentrale wie fragwürdige Figur ist Franz Richter, der in der offiziellen „Hauser“-Forschung – ja, die gibt es! – nicht vorkommt. Offensichtlich hat Tim Plegge mit dieser Figur einen fiktiven Gegenspieler erfunden, der als Metapher für die Vertauschungs- und Verschwöungstheorien gilt. Da das TanzTheater jedoch nicht der Ort für eine wissenschaftliche Klärung komplizierter Sachverhalte ist, sondern typische menschliche Verhaltensweise in künstlerische Darstellung überführt, fällt diese Figur in die Domäne der künstlerischen Freiheit. Taulant Shehu, der diesen Franz Richter tanzt, kommt in seinem dunklen Anzug und dem langen Mantel wie eine Kopie Nosferatus daher, und seine wild bewegte, vorwiegend heimtückisch-arglistige Körpersprache unterstützt diese Assoziation noch. Dieser Franz Richter ist die Inkarnation der Falschheit und Skrupellosigkeit, und meist schleicht er sich schnell und leise an sein Opfer heran. Selbst die rudimentäre Betreuung des von ihm gefangen gehaltenen Hauser ist von dieser Grundhaltung geprägt. Wie alle Bösewichter in der darstellenden Kunst hat Taulant Shehu damit die dankbarste Rolle, die er auch mit viel Können und darstellerischem Talent ausfüllt.
Eine andere wichtige und ebenfalls undurchsichtige Rolle spielt Lord Stanhope (David Cahier), der sich für alle ausgefallenen Personen und vor allem für junge Männer interessiert. Ihm gelingt es schnell, Kaspar Hauser mit Geschenken zu verführen, und ihn auf sich zu fixieren. Dabei hintertreibt er auch skrupellos die aufkeimende Liebe zwischen Kaspar und der jungen Lina (Seraphine Detscher). David Cahler tanzt ihn mit typisch britischem Understatement und einer gewissen Distanz zu seiner Umgebung.
Auch die Gesellschaft als anonyme Struktur spielt in dieser Inszenierung eine wichtige Rolle. Anfangs als einfache Bürger, die den seltsamen Fremdling buchstäblich umtanzen, beglotzen und anfassen, später als vornehme Gesellschaft hoch zu Pferde, die Kaspar Hauser erst anstaunen, dann aber verlachen, als er glaubt, einer von ihnen zu sein. Dabei haben sich die Choreografen einen netten Gag ausgedacht, wenn sie die Tänzer und Tänzerinnen paarweise als Pferd und Reiter auftreten lassen, die gemeinsam durch einen imaginären Park reiten. Eine andere Spezies sind die Wissenschaftler, die zu viert in weißen Mäntel, mit Zylinder und Handschuhen einen aufgebahrten Körper untersuchen. Später werden sie auf ähnliche Art und Weise den lebenden Kaspar Hauser abtasten und vermessen und dabei seelisch sezieren.
Alle diese Szenen sind dramaturgisch leicht nachvollziehbar dargestellt, so dass der Zuschauer stets den Verlauf der Geschichte nachvollziehen kann. Den tänzerischen Stil kann man durchaus als „neo-klassisch“ bezeichnen, ja, bisweilen erinnern einige Figuren sogar an das gute alte Ballet, nur, dass die Tütüs fehlen. Spitzentanz – im buchstäblichen Sinne des Wortes – wird zwar nicht geboten, aber die Bewegungen sind fließend und stets ästhetisch ausgewogen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, so etwa, wenn die Geselslchaft karikiert wird, wobei das Lachen das eine oder andere Mal im Halse stecken bleibt. Wenn Tyler Schnese alias Kaspar Hauser am Ende nach der metaphorischen Ermordung durch die Gesellschaft – diese defiliert an seinem Bett vorbei und drückt ihm einzeln das Kissen auf das Gesicht – langsam die Bühne verlässt, tut er dies aufrecht und mit erhobenem Kopf. Er ist als Fremder in diese Welt eingezogen und zieht als Fremder wieder aus.
Ein wichtiges Element dieser Inszenierung ist die Musik, an der sich die Choreografie ausrichtet. Sie ist nicht nur einprägsam und aussagestark, sondern auch der Situation angemessen. Neben viel Schostakowitsch – unter anderem der berühmte Walzer – kommen auch Philip Glass, Alfred Schnittke und vor allem Franz Schubert zu Gehör, um nur bekannte Namen zu nennen. Besonders ergreifend ist Schuberts Trio in Es-Dur, das dieser kurz vor seinem Tod schrieb und dessen zweiter Satz von Schwermut und Todesahnung geprägt ist. Diese Musik erklingt, wenn Kaspar Hauser völlig verstört durch die ihm unbekannte Gesellschaft geistert und von den Wissenschaftlern als Objekt ihrer Begierde behandelt wird. Dagegen wirkt Schostakowitschs Walzer mit seiner vordergründigen Heiterkeit wie eine Karikatur auf das Treiben der Gesellschaft, was der Komponist vielleicht auch beabsichtigt hat. Denn dieser Walzer nimmt sozusagen Johann Strauß Vater und Sohn aufs Korn. Dagegen übt dann Schuberts mittlerweile wegen seiner Lieblichkeit fast zu Tode gespielte „Ständchen“ eine tröstliche Wirkung aus.
Tim Plegge hat mit dieser Choreografie eine überzeugende Arbeit abgeliefert, die sowohl dem Thema als auch den Erwartungen des Publikums an eine Geschichte und einen ästhetischen Tanz entgegenkommt. Großer Beifall für alle Beteiligten nach dem Fall des Vorhangs.
Frank Raudszus
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