Vorpremiere von Anton Tschechows „Onkel Wanja“ im Staatstheater Darmstadt.
Zuletzt stand dieses Stück im Dezember 2008 auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt, und jetzt erhielten das Darmstädter Publikum die Möglichkeit eines Vergleichs auf derselben Bühne. Die für den Termin dieser Vorführung geplante Aufführung musste leider wegen einer Erkrankung verschoben werden, doch dafür fand eine „Vor-Premiere“ statt, in der ein Regieassistent den Text der Elena vom Buch ablas. Diese Verkürzung lässt natürlich jedweden Rezensionsversuch fragwürdig erscheinen, zumal die Gesamtwirkung bei der späteren Premiere ganz anders ausfallen kann. Doch da bestimmte Aspekte dieser Inszenierung unabhängig von der Rolle der Elena deutlich zu Tage treten, wollen wir uns an dieser Stelle darauf einlassen, die Inszenierung an dieser Stelle dennoch zu rezensieren.
Eine alte (Theater-)Weisheit besagt, dass sich jedes Ereignis einmal als Tragödie und einmal als Farce abspielt, will sagen, dass historische Ereignisse bei ihrem ersten Eintreten echte dramatische Effekte aufweisen, bei späteren Wiederholungen jedoch nur noch groteske Kopien des Originalereignisses darstellen. Nicht zuletzt dieses Bonmot hat dazu geführt, dass viele Regisseure klassische Tragödien oder Dramen gerne als Grotesken darstellen. Dahinter steckt nicht zuletzt die Abneigung gegen festgefahrenes Pathos und eine – bisweilen tatsächlich vorliegende – Überhöhung des jeweiligen Stücks. Als Nebeneffekt liefert eine solche Inszenierung den Eindruck einer abgeklärten Distanz des Regisseurs gegenüber dem Stoff und seiner üblichen Wirkung. Die Tendenz zu einer solchen „Groteskisierung“ eines gegebenen Stoffes hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, und offensichtlich schließt sich auch Moritz Schönecker, der Regisseur dieser Inszenierung, diesem Trend an.
Präsentiert sich das Bühnenbild noch so, wie man es von einer Tschechow-Inszenierung erwartet – weiträumiges Landhaus mit einfachem Mobiliar -, werfen die Kostüme bereits einige Fragen auf. Hubert Schlemmer tritt als Professor Serebriakow in eher heutiger Freizeitkleidung auf: locker aber gediegen, keine Spur von gravitätischer Selbstdarstellung. Zu seiner Abreise trägt er sogar einen knallroten engen Daunen-Anorak, und nur die Pelzmütze erinnert ein wenig an den russischen Hintergrund der Handlung. Thomas Meinhard (Iwan Petrowitsch, genannt „Wanja“) trägt grell gemusterte, fast clowneske Anzüge, die gar nicht zu seinem geradezu bieder-bodenständigen Naturell passen. Mathias Znidarec, der den schwermütig-depressiven Arzt Astrow spielt, tritt gar als Rasputin-Verschnitt mit langem Haar und ebenso langem Bart auf und gleicht mit seiner „hippie-affinen“ Kleidung eher einem alternativen Jugendlichen denn einem in seinem Beruf und in seinem Kampf gegen ökologischen Raubbau zerriebenen Arzt. Stefan Schuster wiederum wirkt in der Rolle des ehemaligen Gutsbesitzers Telegin mit seiner Freizeit-Kleidung eher wie ein jugendlicher Tarnfarben- und Ballonhosenfan als ein alternder, um seine Würde kämpfender Kostgänger.
Soviel zu den Kostümen, die allerdings bereits ein Licht auf die Inszenierung werfen. Das Schönecker-Regieteam – Moritz Schönecker (Regie), Benjamin Schönecker (Bühne) und Joachim Schönecker (Komposition) – hat sich einiges einfallen lassen, um die vermeintliche Leere des Tschechowschen Stückes zu überspielen. Allein der Versuch einer solchen „Auffrischung“ ist jedoch fragwürdig, da die Leere und Ziellosigkeit ein zentrales Thema dieser Stücke sind. Doch hier gibt es eine zusätzliche Figur in Gestalt des Live-Musikanten Levi Raphael, der nicht nur sparsame Musik einspielt, sondern auch selbst in das Bühnengeschehen eingreift: entweder als Ansager, der jeden einzelnen Akt mit demselben englischen Satz und unbewegter Miene einleitet, oder als Mitspieler, der auch in verschiedenen Szenen auf der Bühne zur Gitarre singt. Das reduziert nicht nur ganz banal die Verständlichkeit des gesprochenen Textes und lenkt die Aufmerksamkeit auf den – warum auch immer? – englischen Liedtext, sondern es ist vor allem kein schlüssiges dramaturgisches Konzept dahinter zu erkennen. Offensichtlich haben diese Einspielungen lediglich den Selbstzweck des szenischen Lückenfüllers. Doch gerade diese Lückenfüller überspielen oder besser unterlaufen die Grundaussage dieses Stückes: die alles und alle durchdringende Ziel- und Sinnlosigkeit. Da hilft es auch nicht, dass Levi Raphael gegen Ende ein trauriges russisches Lied zum Besten gibt.
Ähnliches gilt für andere Regieeinfälle. So verfällt Telegin in einer längeren Szene einem exzessiven Trompetenspiel zu den Klavieretüden der Großmutter (Gabriele Drechsel), was – entgegen dem Text! – vielleicht einen verzweifelten Ausbruchsversuch darstellen soll, jedoch weder zur Situation noch dem Charakterprofil des Telegin passt. Überhaupt muss Stefan Schuster diesen Telegin eher als hochgradig Gestörten spielen, der in den unpassendsten Augenblicken in Lachkrämpfe ausbricht. Das Lachen, nicht gerade ein hervorstechendes Merkmal in Tschechows Stücken, spielt gegen Schluss sogar noch eine zentrale Rolle. Als der Professor seine bevorstehende Abreise mit so gravitätischen wie inhaltsleeren Worten umkränzt, bricht die gesamte Belegschaft in ein minutenlanges, überbordendes Lachen aus, offensichtlich, um die Lächerlichkeit des Professors zu entlarven. Doch die Situation ist einerseits zu bitter für befreiende Lacher – Wanja hat gerade versucht, den Professor zu erschießen – und daher szenisch unglaubwürdig, andererseits überliefert es die Inszenierung einer grotesken Lächerlichkeit, die nicht zum Stück passt.
Bleiben noch die darstellerischen Leistungen, und auch hier ist Kritik angebracht. Hubert Schlemmer, ein ausgesprochen versierter und vielseitiger Schauspieler, spielt den Professor eher als knallharten Mittfünziger mit Managementerfahrung und Joggingleidenschaft denn als schwadronierenden Selbstdarsteller. Seine Selbstgerechtigkeit, Egozentrik und Herablassung lassen sich höchstens aus dem Text ableiten, nicht aber aus Mimik und Gestik. Was hier völlig fehlt, ist die Fallhöhe. Allerdings passt dieses Profil zu der bereits erwähnte Kostümierung. Matthias Znidarec unterstützt diesen Regietrend mit seiner Darstellung des Astrow. Er spielt den Arzt eher als flachen Vorstadt-Zyniker, der zwar ein gewisses Vokabular pflegt, aber nicht mit seiner ganzen Person dahinter zu stehen scheint. Durchgängig verbreitet er den Eindruck des auf einer weltanschaulichen Welle schwimmenden „coolen Typen“, nicht aber den eines innerlich zerrissenen und verzweifelten Menschen. Thomas Meinhardt dagegen kommt der Person des Wanja noch am nächsten und bringt dessen abgrundtiefe Enttäuschung und Wut über sein zum Wohle des Professors vergeudetes Leben zum Ausdruck. Den Mordanschlag – eigentlich nur Totschlag – auf den Professor nimmt man ihm nicht ohne Schadenfreude ab. Dennoch glauben wir, dass man besser den Professor mit Thomas Meinhardt und den Wanja mit Hubert Schlemmer besetzt hätte. Gabriele Drechsel hat leider wenig Gelegenheiten, ihre bereits oftmals bewiesenes Können zu zeigen. Statt die unbelehrbare Bewunderin des Professors in aller Schärfe zu portraitieren, muss sie sich in seltsamen Wanderungen in verschiedenen Verhüllungen und in verrenkten Posen präsentieren. Dafür darf sie ihre pianistischen Fähigkeiten (Beethovens „Mondscheinsonate“) zeigen.
Ein Lichtblick ist jedoch Katharina Susewind als Sonja. Sie spielt dieses arme und wenig attraktive Mädchen mit so viel Herzblut und unverfälschter Wahrhaftigkeit, dass die anderen Darsteller daneben fast ein wenig verblassen. Jeder Szene gewinnt sie eine besondere Nuance ab, und sowohl die so schüchterne wie verzweifelte Liebe zu Astrow als auch die Loyalität ihrer Figur zum Gut und dessen Bewohnern bringt sie mit eindringlicher Einfachheit und hoher Intensität zum Ausdruck. Wenn denn die Regie den Darstellern ironische Distanz zu ihren Rollen verordnet hat, hat Katharina Susewind diese Vorgabe souverän ignoriert und spielt ihr eigenes, überzeugendes Spiel.
Man könnte daher Schöneckers Interpretation des Tschechowschen Stückes wie folgt zusammenfassen: Serebrjakow ist – als Vertreter der Oberschicht – ein nüchtern und effizient kalkulierender (kapitalistischer) Geschäftsmann, der die unteren Schichten nach belieben zum eigenen Wohle ausbeutet und dabei nicht die geringsten Schuldgefühle oder gar Empathie entwickelt. Wanja ist ein tumber Tor – wenn nicht trauriger Clown -, der sich nur durch ungezielte Wut oder plötzliche Aggression wehren kann. Astrow ist ein idealistischer Träumer und Salonrevolutionär, der gerne redet aber nichts tut. Die anderen Figuren – etwa Telegin – sind unwichtig. Das ist zwar eine in sich geschlossene Sichtweise, hat jedoch wenig zu tun mit der komplexen psychologischen Konstruktion des Stücks.
Mag sein, dass so mancher Schwachpunkt dieser Aufführung auf das Fehlen von Maria Radomski zurückzuführen ist. Doch bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass Elena eigentlich keine Hauptperson darstellt sondern nur einen Katalysator für die Handlungen der anderen Figuren, vor allem der Männer. Insofern funktioniert die Inszenierung auch mit einer Lesung ihres Textes durch den Regieassistenten, der sich übrigens erfolgreich darum bemühte, nicht spielen zu wollen. Die Versuchung ist durchaus gegeben, doch die Gefahr des Scheiterns bis zur Lächerlichkeit ist doch zu groß, auch wenn das Theater im vergangenen Jahr schon in einigen Inszenierungen junge, schöne Frauenrollen mit bodenständigen Männern besetzt hat. Wir vermuten, dass diese Inszenierung auch in der vollen Besetzung nicht wesentlich anders aussehen wird.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Robert Schittko
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