Am SchauspielFrankfurt hat Michael Thalheimer Heinrich von Kleists „Penthesilea“ auf völlig neue Weise inszeniert.
Das letzte Mal war dieses problematische Stück Kleists auf der Bühne des Frankfurter Schauspiels im Jahr 2001 in einer nicht sehr geglückten Inszenierung zu sehen, danach 2014 in Darmstadt. Für das südhessische Publikum ergab sich daher eine gute Gelegenheit des Vergleichs verschiedener Annäherungen an dieses Stück.
Michael Thalmeier hat aus der Not der endlosen Botenberichte eine Tugend gemacht. Da die Kampfszenen sowieso nicht auf der Bühne stattfinden sondern nur in den Berichten verschiedener Boten ihren Niederschlag finden, kann man daraus den Schluss ziehen, dass die Sprache hier die Handlung treibt, nicht die gespielte Aktion. Da aber diese – meist ausführlichen – Berichte dramaturgische Längen erzeugen, hat sich Thalmeier dafür entschieden, das ganze Stück als einen einzigen Bericht aus drei Mündern zu inszenieren: Penthesilea (Constanze Becker), Achill (Felix Rech) und „die Frau“ (Josefin Platt), die Texte der Hohepriesterin und anderer Figuren übernimmt. Das heißt, vor allem die beiden Protagonisten reden über weite Strecken in der dritten Person von sich. Um allerdings nicht in noch größere Langatmigkeit zu verfallen, hat Thalheimer das Stück radikal zusammengestrichen und auf die wesentlichen Passagen verdichtet.
Wenn sich der eiserne Vorhang öffnet – ja: hier hebt sich noch ein Vorhang! -, sieht man eine pyramidenförmig ansteigende Fläche, auf deren Spitze Penthesilea mit dem toten Achill in den Armen sitzt. Beide sind blutüberströmt, Achill nackt. Obwohl Kleists Stück inhaltlich nichts mit den christlichen Motiven zu tun hat, drängt sich die Assoziation der Pietá förmlich auf, was wohl auch beabsichtigt ist. Es ist der Moment nach dem Ende, der auf den Anfang zurückverweist. Penthelisea erwacht aus ihrem mörderischen Rausch, der sie den wehrlosen Achill hat förmlich zerreißen lassen, und schaut zurück auf den Gang der Ereignisse. In diesem Rückblick erwacht Achill wieder zum Leben, und Ereignisse laufen noch einmal ab, nun jedoch in der Erinnerung. Im Gang dieser Erinnerung verschwindet Felix Rech kurz von der Bühne und erscheint gereinigt und im Anzug wieder, um zur Retrospektive beizutragen.
Die ganze Geschichte um die Amazonen und ihren Brauch, sich die Männer zur Fortpflanzung auf dem Schlachtfeld einzufangen, Penthesileas verbotene Liebe zu Achill und den doppelten Zweikampf zwischen den beiden wird jetzt in Kleists wortgewaltiger Sprache verhandelt. Die Dialoge von Odysseus, Antilochus und Diomedes einerseits sowie Prothoe, Meroe und der Oberpriesterin andererseits gehen ein in die Mono- und Dialoge der drei Protagonisten auf der Bühne. Sie tragen die Texte einander vor, ohne dass daraus jedoch ein echter, handlungsorientierter Dialog wird. Sie sind alle drei Boten ihrer selbst und des Geschehens. Nur in den Szenen, die in der Handlung Achill und Penthesilea zusammenführen, spielen Constanze Becker und Felix Rech eine Art Handlung nach. Bei dieser geht es jedoch weniger um das, was geschieht, also das einzelne Handlungselement, als vielmehr um das Verhältnis der beiden zueinander. Das Verhängnis der beiden besteht darin, dass sie das selbe erotische Beuteverhalten verinnerlicht haben: den anderen physisch und erotisch zu unterwerfen. Die Verweigerung des Kampfes und die freiwillige Hingabe betrachtet vor allem Penthesilea als Demütigung, da sie darin eine Geringschätzung ihrer Person sieht. Im Prinzip folgen beide männlichen Verhaltensmuster, und ausgerechnet Achills freiwillige Aufgabe dieses männlichen Verhaltens führt zur Katastrophe. So führt die Inszenierung folgerichtig zum Anfang zurück, wenn sich Felix Rech entkleidet und sich „nackt und bloß“ der geliebten Frau zum Kampf stellt, woraufhin diese ihn in rasender Wut zerfleischt – was sich auf der Bühne auf Worte und Ströme künstlichen Bluts beschränkt. Am Ende sitzt Penthesileas wie von Sinnen mit dem blutüberströmten Körper Achill allein da und nimmt sich selbst das Leben.
Eine solche Inszenierung kann nur mit sprachmächtigen Darstellern funktionieren, die das Publikum allein mit der Gabe des gesprochenen Wortes in ihren Bann schlagen. Über diese Darsteller verfügt das Schauspiel mit Constanze Becker, Josefin Platt und Felix Rech. Alle drei artikulieren nicht nur hervorragend, sondern sie haben auch die Gabe einer präsenten Stimme sowie das richtige Gespür für klassisches Versmaß. Die Präsentation dieser gehobenen Sprache ist eine eigene Sache und nicht jedem gegeben. Leicht kann der Vortrag auf der Bühne in Deklamation bis hin zu ungewollter Komik oder zu Langeweile ausarten. Die drei Darsteller tragen den Text jedoch in einer Dichte und Präsenz vor, die unmittelbar die psychische Situation der Protagonisten widerspiegeln. Auf diese Weise wirken die kunstvollen Dialoge letztlich wie eine glaubwürdige Auseinandersetzung auf existenziellem Niveau. Den Darstellern gelingt dabei das Kunststück, sowohl die hohe Kunstform der Kleistschen Sprache als auch den Inhalt der Verse zum Ausdruck zu bringen. Constance Becker ist eine von ihrer kämpferischen Mission durchdrungene Anführerin, die mehr mit ihrer aufkeimenden, aber verbotenen Liebe kämpft als mit dem Feind. Sie artikuliert ihren Text mit Schärfe, streckenweise verzweifelter Aggression. Felix Rech dagegen legt den Achill eher als selbstsicheren Frauenheld an, der anfangs fast belustigt auf Penthesileas Angriffe reagiert, dann jedoch in inneren Aufruhr gerät und die Komplexität der Situation zu erahnen beginnt. Er verleiht seinen Worten mehr Rundungen, weil Achill in erster Linie um den erotischen Erfolg kämpft und keinen Konflikt mit seiner Stellung und seiner Herkunft kennt. Sein Achill läuft fast ahnungslos-gutmütig in eine Falle, die das Schicksal in Gestalt des existenziellen Unterschieds zwischen seiner und Penthesileas Lage gestellt hat. Die Ausnahmesituation der beiden Kontrahenten wird dabei in einer Dichte und Präsenz sicht- und hörbar, dass im Saal gespannte Stille herrschte. Kaum ein Husten störte die Spannung, und die Zuschauer hörten vor allem Constanze Becker und Felix Rech, aber auch Josefin Platt mit höchster Aufmerksamkeit zu.
Diese Inszenierung, die in ihrer spezifischen Art an die Inszenierung von Ibsens „Nora“ desselben Regisseurs erinnert, überzeugt, nein: überwältigt einerseits durch den Purismus des Bühnenbildes, andererseits durch die Wucht der sprachlichen Darstellung. Die Kürzung tut dem Stück ausgesprochen gut, da die langatmigen Botenberichte und die eher der Erklärung der Handlung dienenden Dialoge zwischen Odysseus, Antilochos und anderen Figuren gestrichen wurden oder mit ausgewählten Textauszügen in die Texte der Hauptpersonen integriert worden. Auch die Kostüme sollte man erwähnen. Dass Felix Rech als Achills über weite Strecken der Aufführung splitternackt auftritt und auch die frontale Pose nicht scheut, ist auch heute im Theater noch ungewöhnlich, wirkt aber keinen Augenblick lang peinlich, weil die Nacktheit die existenzielle Blöße widerspiegelt. Constance Becker wiederum trägt ein weit ausgestelltes, goldenes Kleid, dass Herrschaft und Macht symbolisiert und in dem weitgehend schwarzen Bühnenbild wie ein Fanal leuchtet. Josefin Platt tritt als Hohepriesterin in einem schmucklosen weißen Kleid auf, dass die Distanz zu den beiden Protagonisten betont.
Das Publikum zeigte sich auch in der Abonnementsvorstellung zwei Monate nach der Premiere begeistert wie bei einer Premiere und spendete den Darstellern neben „Bravo“-Rufen auch stehende Ovationen.
Frank Raudszus
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