Das Buch der Nobelpreisträgerin über Afghanistan
Nach ihrem im Jahr 1983 verfassten und erst 2008 (!) erschienenen Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ hatte die Autorin aufgrund der erschütternden Aussagen entschieden, nie mehr ein Buch über den Krieg zu schreiben. Doch dann trat der Afghanistan-Krieg immer stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen, vor allem aufgrund der ständig steigenden Zahl der Gefallenen. Der Krieg ging mittlerweile ins siebte Jahr, und auch in der totalitären UdSSR häuften sich die Fragen und wuchs der Protest über diesen Krieg. So beschloss sie, eine Reise in das Kriegsgebiet zu unternehmen und die Beteiligten direkt zu interviewen.
Aus der Rückschau, mit dem Wissen um die Inhalte dieser Interviews, mutet es seltsam an, dass die Behörden der UdSSR der Autorin – damals noch keine Literaturpreisträgerin – diese Erkundungsreise gestatteten. Wahrscheinlich nahmen sie an, Swetlana Alexijewitsch würde im Sinne der sowjetischen Heldenberichterstattung schreiben und vom Brunnen- und Schulenbau, von ärztlicher Hilfe und ansonsten von der heroischen Vertreibung einiger unverbesserlicher Feinde des Sozialismus berichten. Doch es kam ganz anders. Swetlana Alexijewitsch traf auf völlig verstörte, desillusionierte und verbitterte Soldaten, die täglich mit einem grausamen Tod konfrontiert waren und am Sinn ihres Einsatzes zweifelten. Man hatte ihnen erzählt, sie sollten die Einführung eines strahlenden Sozialismus unterstützen und diesen gegen böswillige – bei Bedarf auch von den westlichen Kapitalisten eingeschleuste – Anhänger des alten Feudalsystems schützen. Aber sie mussten erkennen, dass die einheimische Bevölkerung sie als ausländische Eindringlinge hasste, die ohne Grund über ihr Land hergefallen war und unterschiedslos junge Männer, Frauen und Kinder töteten.
Das Buch ist ähnlich aufgebaut wie das über die Frauen an der Weltkriegsfront und besteht weitgehend aus der Wiedergabe von Aussagen einfacher Soldaten, mittlerer und höherer Offiziere und ziviler Mitarbeiter über die Grausamkeit dieses Krieges und die Lügen der sowjetischen Regierung. Viele Interviews sind dabei anonym gehalten („Ein Panzerfahrer“), in anderen Fällen nennt sie den Namen des Interviewten, wobei nicht immer klar ist, ob die Autorin zum Schutz des Befragten ein Pseudonym gewählt hat. Während im Buch über den Zweiten Weltkrieg noch die Vaterlandsliebe und die Empörung über Hitlers Überfall überwiegen, die selbst die bittere Erkenntnis der Grausamkeit des Krieges nicht ins Wanken bringen kann, kommt hier die grenzenlose Enttäuschung über den „real existierenden Sozialismus“ und seine führenden Vertreter in der UdSSR zum Ausdruck. Wer nicht verstört oder gar traumatisiert ist, wird zum bitteren Zyniker, der das Töten fast schon als eine perverse Lust bezeichnet und in der Welt keinen anderen Halt als das pure Überleben findet. Angesichts dieser „geballten Ladung“ von Frustration, Entsetzen und Hass auf die eigene Regierung (und Vorgesetzten) kann man sich nachträglich gut vorstellen, dass der Afghanistan-Krieg die Keimzelle für den Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus wurde. Die Heimkehrer, ob invalide oder – wider Erwarten – physisch intakt, waren entwurzelt und in ihren moralischen wie politischen Grundfesten erschüttert und trugen diese Erkenntnisse in die sowjetische Gesellschaft, wo sie langsam zu keimen begannen.
In einem aufschlussreichen Kapitel hat Swetlana Alexijewitsch die späteren Reaktionen auf ihr Buch beschrieben. Eine Reihe von Befragten – Soldaten oder Angehörige von Gefallenen – verklagten sie wegen angeblicher Verfälschung ihrer Aussagen. In einigen Fällen soll sie damit das Ansehen des einzelnen Soldaten, in anderen sogar dem Ansehen der Armee, des Staates und des Sozialismus in den Dreck geschadet haben. Man kann sich angesichts der Ehrlichkeit und Ungeschminktheit der unmittelbaren Aussagen und der konstruierten Vorwürfe leicht vorstellen, wer diese Prozesse initiiert und vorangetrieben hat. Swetlana Alexijewitsch hütet sich, diesen Verdacht offen auszusprechen, weil sie dafür natürlich keine Beweise hat, doch dem Leser wird ihre Sicht der Dinge schnell klar, zumal diese Prozesse alle noch während der Sowjetzeit stattfanden. Außerdem fehlten bei vielen dieser Anklagen angeblich falsch zitierter Soldaten deren Name und Unterschrift.
Es ist zu vermuten, dass dieses Buch nach der kurzen Zeit der Offenheit und – wenn auch eingeschränkter – Vergangenheitsbewältigung im Russland Putins wieder auf dem Index steht. Daher ist es wichtig, dass es im Westen umso gründlicher gelesen wird, denn es zeigt, wie eine halbe Generation physisch oder psychisch buchstäblich verheizt wurde. Schließlich fielen in Afghanistan über 15.000 sowjetische Soldaten, von gefallenen Mudschaheddin ganz zu schweigen.
Das Buch „Zinkjungen“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 317 Seiten und kostet 11,- Euro.
Frank Raudszus
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