Das Staatstheater Darmstadt präsentiert im 3. Sinfoniekonzert Bartok, Strawinsky und Dvorak.
Es ist im Konzertbetrieb Brauch, das Solokonzert in die Mitte zu stellen. Dahinter steht die Überlegung, den Zuhörern einerseits erst eine musikalische „Aufwärmung“ zu gewähren, ehe es an den Kern des Konzerts geht, und andererseits noch die ungeteilte Konzentration darauf zu ermöglichen. Außerdem stellt man moderne – meist kürzere – Stücke an den Beginn, da eine Platzierung am Konzertende unter Umständen zu einem Abbröckeln des Publikums führen könnten.
Diese bewährte Einteilung stellte Ex-GMD Hans Drewanz, der mit seinen mittlerweile 86 (!) Jahren das Konzert von Anfang bis Ende in erstaunlicher Frische dirigierte, auf den Kopf. An den Beginn stellte er Béla Bartóks Klavierkonzert Nr. 3 aus dem Jahr 1945, das die russische Pianistin Anna Vinnitskaya interpretierte. Im Anschluss daran – nach einer sehr frühen Pause – stand Igor Strawinskys „Zirkuspolka für einen jungen Elefanten“ (1942/44) auf dem Programm und zum Schluss Antonín Dvoráks 8. Sinfonie in G-Dur, die sogenannte „Englische“. Der Grund für diese Reihenfolge wurde nicht näher erklärt. Musikalische Überlegungen drängen sich nicht auf, daher darf man organisatorische Zwänge vermuten.
Anna Vinnitskaya hat es mit ihren gerade einmal 32 Jahren bereits zu einer Professur gebracht – an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Auch sie ist offensichtlich ein musikalischer Dauerexport des an musikalischen Talenten reichen Russland. Sie ging Bartóks Klavierkonzert mit unübersehbarer Spielfreude an, die sich in fast heiteren Gesichtszügen und einer spielerischen, die musikalische Entwicklung begleitenden Mimik ausdrückte. Dieses Konzert, kurz vor Bartóks Tod komponiert, ist weniger spröde als seine Vorgänger und erinnert mit seiner Tonalität und der vollgriffigen Partitur vor allem im ersten Satz mal an Johannes Brahms, mal an Rachmaninoff oder Prokofjew. Diese Ähnlichkeiten blitzen jedoch nur in einigen Momenten auf und sind nicht als direkte Zitate oder gar „Hommage“ zu verstehen. Man kann dahinter jedoch eine Rückschau auf Bartóks musikalischen Werdegang und die ihn beeinflussenden Komponisten vermuten, die sich Bartók angesichts seiner schweren Krankheit aufgedrängt haben mag. Akkordische, weitgehend dissonanzfreie Klänge dominieren diesen Satz, auch wenn die Tonalität sich durch eine modernere Harmonik deutlich von der Spätromantik abhebt. Der zweite Satz – „Adagio religioso“ übertitelt – kommt feierlich wie ein Choral daher und kann auf Bartóks schwere Krankheit zurückzuführen sein. Vielleicht schimmert hier eine späte Zuwendung des Atheisten zum Religiösen durch. Der dritte Satz besticht dann durch seine fast tänzerische Rhythmik und seine Virtuosität, die fast an Ausgelassenheit grenzt. Anna Vinnitskaya stellte in diesen drei so unterschiedlichen Sätzen ihr technisches wie musikalisches Können unter Beweis. Im ersten konnte sie spätromantische Musikalität ausleben, im zweiten die Konzentration auf eine introvertierte Versenkung und im dritten schließlich ihre technische Perfektion und ihr musikalisches Temperament. Selbst die dichtesten Akkordketten und die schnellsten Läufe flossen ihr fast spielerisch aus den Händen, und auch hier zeigte sich, dass ein kraftvolles Spiel keinen muskulösen Männerkörper erfordert, sondern dass die richtige Technik auch einer zarten Frau ein machtvolles Spiel ermöglicht. Besonders hervorzuheben ist jedoch ihr musikalischer Humor, den sie besonders bei den mal dahingetupften, mal markig eingeworfenen kurzen Akkordfolgen zeigte, die wie ein plötzliches Lachen oder wie erstaunte Ausrufe wirkten. Anna Vinnistkaya gelang es, die Ambivalenz dieser Passagen zwischen Humor und Erschrecken zu verdeutlichen. Hans Drewanz und das Orchester begleiteten sie mit viel Aufmerksamkeit nicht nur für die musikalischen Besonderheiten der Partitur sondern vor allem für die eigenen musikalischen Vorstellungen der Solistin.
Das Publikum zeigte sich von dieser Interpretation begeistert und zeigte dies mit kräftigem, lang anhaltendem Beifall. Daraufhin spielte Anna Vinnitskaya als Zugabe noch einen Walzer aus dem 20. Jahrhundert, der bereits auf den zweiten Programmpunkt des Konzerts hinwies. Dieser bestand aus Strawinskys Burleske, die tatsächlich als Auftragswerk für einen Zirkus entstand und ein Ballet mehrerer Elefanten musikalisch untermalen sollte. Schon die ersten Takte zeigen den unverwechselbaren Stil Strawinskys: scharfe Klänge und akzentuierte Rhythmen, präsentiert von dominierenden Blechbläsern und Schlagwerk. Das nur knapp fünf Minuten dauernde Stück erinnert mal an „Petruschka“, mal an „Le Sacre du Printemps“. Am Schluss persifliert Strawinsky noch Franz Schuberts Militärmarsch mit kräftigen Dissonanzen. Dem Orchester schien diese burleske Musik richtig Spaß zu machen, so engagiert und konsequent gingen Dirigent und Musiker zu Werke.
Am Schluss stand dann ein Paradestück der böhmisch-mährischen Musik, Dvoraks 8. Sinfonie. Viel ist schon geschrieben worden über die melancholische Grundstimmung böhmischer Musik, die sich in weiten, der Volksmusik entlehnten Melodiebögen ausdrückt. Der Eindruck von weiten Landschaftsgemälden mit breit dahin fließenden Strömen drängt sich bei dieser Musik fast auf, und nicht umsonst wählen Filmemacher Dvoraks Musik auch gerne zu entsprechenden Landschaftsszenen aus. Dabei sollte man sich natürlich hüten, diese Musik vorschnell in die Ecke der Programmusik abzuschieben. Dvorak hat sich aus dem Volksliedgut bedient und dessen Melodien als Anregung genommen, dabei jedoch ein eigenständiges musikalisches Werk und keine sentimentale Nummernrevue aus Volksliedern zusammengestellt. Erstaunlich ist die Vielfalt und die Intensität dieser immer neuen melodischen Motive. Diese Sinfonie ist in gewisser Weise tatsächlich weniger die systematische Verarbeitung eines oder weniger vorgegebener Themen – wie in der Sonatenform – sondern eine Folge immer neuer Ideen, die jedoch nicht einfach aneinandergereiht werden, sondern in ein musikalisches Gesamtkonzept eingebettet sind. Allen diesen Themen und Motiven ist gemeinsam, dass sie in herkömmlichen Sinne „schön“ sind und entsprechende, meist nostalgisch grundierte Assoziationen von Ruhe und Frieden wecken. Das mag man aus einem musik- und gesellschaftskritischen Blickwinkel skeptisch sehen, doch es ist der Fall, und wer will sich schon gegen angenehme Assoziationen wecken, auch wenn „die Verhältnisse nicht so sind“.
Das Orchester zelebrierte Dvoraks Musik geradezu mit Inbrunst, ohne dass die Musik deshalb in pseudoromantische Breite zerfloss. Hans Drewanz achtete bis zum Schlussakkord auf Dichte und Transparenz und legte den strukturellen Kern der Musik offen. Alle Instrumente kamen auf je eigene Art zum Tragen, wobei besonders die Trompeten im vierten Satz hervorzuheben sind: sie haben die undankbare Aufgabe, den Satz ohne Orchesterbegleitung einzuleiten – ein Albtraum für alle Trompeter. Sie meisterten diese Stelle jedoch souverän, was ihnen später Sonderapplaus einbrachte. Doch auch die Klarinetten, die Oboen und die Flöten hatten ausreichend Gelegenheit, sich zu profilieren, und taten dies mit weichem Ansatz und warmem Timbre. Man könnte in dieser Aufzählung fortfahren zu anderen Instrumenten, wir wollen es an dieser Stelle jedoch dabei belassen, die Leistung des ganzen Orchesters und seines so bejahrten wie jugendlichen Dirigenten Hans Drewanz hervorzuheben.
Das Publikum dachte ebenso und bewies dies mit kräftigem, ausdauerndem Beifall.
Frank Raudszus
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