Oliver Reese inszeniert im SchauspielFrankfurt Kleists „Der zerbrochene Krug“ als konzentrierte Gerichtsverhandlung.
Heinrich von Kleist gilt nach wie vor als der einzige und unerreichte deutsche Komödienschreiber. Vor allem „Der zerbrochene Krug“ hat sich zu einem Paradestück dieser Gattung auf deutschen Bühnen entwickelt und gehalten. Dabei inszenieren es die Regisseure gerne als mehr oder minder derben Schwank, in dem die Dorfgesellschaft im Verein mit dem Gerichtsrat dem erotisch umtriebigen Dorfrichter Adam mal so richtig die Leviten liest. Es gibt viel zu lachen, wobei die Schadenfreude gerne überwiegt, da sich der Zuschauer – hier sei einmal bewusst nicht auf das generische Maskulinum verwiesen! – an diesem Negativhelden mit Inbrunst abarbeiten und von ihm distanzieren kann. Das Dumm-Dreiste eines gesellschaftlichen Tölpels wird dann gerne bis zum Schwank zugespitzt. Doch man kann die Geschichte um den zerbrochenen Tonkrug auch aus einer ganz anderen, ernsthafteren Perspektive betrachten, und Oliver Reese tut dies konsequent.
Zum Verständnis ist allerdings der volle Kontext dieser Inszenierung erforderlich. Reese hat dieses Stück als „Doppelinszenierung“ zusammen mit Ferdinand von Schirachs „Terror“ konzipiert, indem ein Luftwaffenpilot vor Gericht steht, weil er eine zur Terrorwaffe umfunktionierte Passagiermaschine entgegen den Weisungen seiner Vorgesetzten abgeschossen hat. Beide Inszenierungen geben ausschließlich den Verlauf einer Gerichtsverhandlung wieder und verzichten auf jegliches erweitertes Bühnenumfeld. Eine holzgetäfelte Rückwand, einige Sitzgelegenheiten und zwei Türen – das ist alles und in beiden Inszenierungen identisch. Fast symbolhaft sitzt der Richter im Zentrum der Bühne, so wie das Rechtswesen im Zentrum eines demokratischen Rechtsstaates stehen sollte. Und so steht in beiden Stücken eigentlich nicht die jeweilige Anklage zur Diskussion, sondern der Rechtsstaat selbst mit seinen inneren Widersprüchen und Aporien. Steht in „Terror“ die unmögliche Abwägung zweier gleich schlechter Alternativen im Vordergrund, so ist es in Kleists Komödie das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. Aus diesem Blickwinkel entwickelt auch der Titel eine ganz andere Gewichtung, denn der vermeintlich banale Tonkrug steht jetzt für das Vertrauen, das im Laufe der Verhandlung zerbricht – durch die Schuld der Justiz.
Es geht – zumindest in dieser Inszenierung, doch wahrscheinlich auch schon bei Kleist selbst – nicht darum, wer den Krug zerbrochen hat, wer als im Sinne des eher trivialen Tatbestands schuldig ist. Es geht vielmehr darum, dass alle Beteiligten in der vollen Überzeugung zur Verhandlung antreten, dass mit dem schließlich gefällten Urteil nicht nur Recht gesprochen sondern auch Gerechtigkeit wiederhergestellt wird. Dieser Glaube beruht nicht nur auf der Überzeugung, im Recht zu sein, sondern, tiefer noch, auf dem Vertrauen auf das Rechtssystem. Beide Seiten fixieren bei ihren Einlassungen immer wieder den Richter, der für sie nicht nur eine juristische sondern letztlich auch eine moralische Instanz darstellt. In einer unsicheren Welt voller Fallstricke sowie – vermeintlichem? – Lug und Trug ist die Justiz das einzige stabilisierende Element, das dem Leben eine zuverlässige Struktur verleiht. Man kann sich die psychischen und weltanschaulichen Folgen vorstellen, die eintreten, wenn gerade dieses System sich nicht nur als irrtumsanfällig – Irren ist menschlich! – sondern selbst als kriminell und als Ursache der Verwicklungen herausstellt. Diese Erkenntnis zieht den Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, und auch die Entlarvung des Dorfrichters durch den Gerichtsrat kann diese bodenlose Enttäuschung nicht wieder wettmachen. Das einmal verlorene Vertrauen ist so schnell nicht wiederherzustellen. Und so fallen sich die Geschädigten nach der Auflösung der Geschichte zum Schluss nicht freudig und erleichtert in die Arme, sondern starren mit leeren Augen vor sich hin.
Auch das von Kleist wohl im Sinne eines Zugeständnisses an die Zensur konzipierte Ende mit der Flucht des Richters und seiner endgültigen Bloßstellung – einhergehend mit der Wiederherstellung des Rechtssystems – gestaltet Oliver Reese ohne große Textänderungen ins Ambivalente um. Der Gerichtsrat bestätigt offiziell den so unsinnigen wie ungerechten Gerichtsbeschluss des Dorfrichters, suspendiert diesen jedoch und verweist gleichzeitig auf die Revisionsmöglichkeit. Damit ist zwar sowohl dem Recht formal als auch dem Empfinden der beiden Parteien Genüge getan, doch Adam flieht nicht in die Weite des Landes, sondern bleibt fast demonstrativ auf seinem Stuhl sitzen und versucht im erstbesten Augenblick, wieder einen erotischen Kontakt zu Eve aufzubauen. Während in den üblichen Inszenierungen die Welt am Ende wieder in Ordnung ist, geht es bei Oliver Reese im Prinzip genauso weiter. Der Austausch untragbarer Repräsentanten ändert noch lange nicht das System. Der demokratische Rechtsstaat ist ein im Prinzip sehr labiles Gebilde, das leicht aus der Balance geraten und schnell zur rechtsstaatlichen Farce degenerieren kann. Putins „lupenreine Demokratie“ oder die Entwicklung in Polen sind aktuelle Beispiele, das Dritte Reich ein historisches Beispiel der schlimmsten Sorte.
Natürlich kann und will Reese nicht alle komödiantischen Elemente ausschließen, denn das würde Kleists Stück doch zu blutleer werden lassen. Wenn Frau Marthe mit der weitschweifigen Geschichte des Krugs das gesamte Gericht zur Verzweiflung bringt, ist das schon einen Lacher wert, und das Publikum nutzt die Chance auch. Oder wenn Dorfrichter Adam sich angesichts der sich zunehmend gegen ihn richtenden Indizien von einer Ausrede in die andere rettet, dann hat das ebenfalls seinen komödiantischen Wert. Max Mayer begleitet diese juristischen und sonstigen Argumentationsvolten denn auch mit kräftiger Mimik wie Augenrollen, gefälligem Grinsen zum Gerichtsrat und zorngerötetem Gesicht gegenüber den Prozessbeteiligten und erntet damit mehrere Mal berechtigten Szenenapplaus. Obwohl Mayers schauspielerische Leistung durchaus bewundernswert ist, fragt man sich, ob es nicht noch wirkungsvoller gewesen wäre, den Dorfrichter nicht als bauernschlauen aber verzweifelten Tor anzulegen, sondern als jemanden, der die heikle Situation mit kalter Kalkulation aus seiner Machtposition heraus zu lösen versucht. Man denke hier an die routinierte Verteidigungsstrategie eines Filbinger. Das wäre natürlich eine Gratwanderung am Rande von Kleists Komödie gewesen und hätte diese unter Umständen vergewaltigt, andererseits hätte eine solche Darstellung das Diabolische eines verrotteten Rechtssystems entlarvt und sich nicht auf die Farce beschränkt.
Doch das sind Betrachtungen im Sinne von „hätte, wenn“, die auf keinen Fall den Wert dieser Inszenierung mindern sollen. Reese hat sich für die kräftige Farce ganz im Sinne von Kleist entschieden, diese aber von allem gutmütigen bäuerischen Schwank befreit. Bettina Hoppe ist eine aufgebrachte, fast giftige Frau Marthe, mit der wahrscheinlich auch in anderen Situationen nicht gut Kirschen essen ist. Der Schreiber Licht von Nico Holonics kommt als bauernschlauer, geschmeidiger Karrierist daher, der genau weiß, was die Stunde geschlagen hat, und seinen Chef aus durchaus eigennützigen Motiven und nicht aus reiner Liebe zu Recht und Gerechtigkeit vorführt. Ruprecht (Lukas Rüppel) ist über lange Strecken ein ob der Anschuldigungen desorientierter und ob der vermeintlichen Untreue seiner Verlobten verzweifelter junger Mann. Der Gerichtsrat Walter ist bei Martin Rentzsch ein eher moderner Jurist, der die chaotische Situation mit einem ungläubigen Lächeln verfolgt und trotz der katastrophalen Amtsführung des Dorfrichters bis zum letzten Augenblick versucht, die Autorität des Rechtsstaats aufrecht zu erhalten. Als Eve sprang an diesem Abend für die erkrankte Carina Zichner kurzfristig Paula Hans ein, und sie machte ihre Sache so gut, dass sie am Ende Sonderbeifall vom Publikum und von ihren Mitspielern erhielt. Constanze Becker spielt eine mondäne Frau Brigitte und Anica Happich eine kapriziöse Magd, sprich Sekretärin.
Bliebe am Schluss noch Kleists Sprache zu erwähnen, die bei Oliver Reese und den Darstellern eine Renaissance erlebt. Unter Verzicht auf Modernisierung der Sprache lässt Reese Kleists Texte geradezu erblühen, und die Darsteller tun ihm und dem Publikum den Gefallen, die Sprache zu zelebrieren, ohne in falsche Deklamation zu verfallen. Es ist ein Genuss, einerseits Kleists Originaltext zu folgen und andererseits dank angepasster Satzrhythmik und Intonation den zeitlosen Aspekt durchzuhören. An dieser Inszenierung kann man exemplarisch herleiten, dass eine Aktualisierung nicht mit einer Anbiederung an die heutige Umgangssprache einhergehen muss, sondern sich auch ganz natürlich aus dem Originaltext entwickeln kann.
Frank Raudszus
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