„Liebe. Trilogie meiner Familie I.“ im Thalia Theater Hamburg
Émile Zola ist bekannt für seine tristen aber umso gefühlsnäheren und vereinnahmenderen Romane über die Zeit der industriellen Revolution. Einer seiner bekanntesten Romane ist sicher „Germinal“, der das entbehrliche und geradezu verelendete Leben der Bergwerke und ihrer Malocher zeichnet. Neben verrußten Männern werden Pferde in den düsteren Schächten zur Arbeit getrieben und wohl kaum je wieder lebendig das Tageslicht erblicken . Auch Kinder schuften in den weit verzweigten, engen, scharfkantigen Gängen und sind ab der beginnenden Jugend verdammt zu einem Leben unter Tage unter schwersten körperlichen Bedingungen, die das eigene Sein auf ewig hin prägen werden. In diesem Umfeld entstanden auch die Romane des monumentalen Zyklus „Die Rougon-Macquart“, an denen Zola ab 1869 zwei Jahrzehnte lang schrieb und jedes Jahr einen neuen Roman aus selbiger Reihe veröffentlichte. Eine Familie im Zweiten Kaiserreich steht in Form einer Natur- und Sozialgeschichte im Mittelpunkt. Der Rougon-Teil der Familie lässt sich der Bourgeoisie, der Macquart-Teil dem Proletariat zuordnen. Eine zentrale Person im letzten Werk ist Doktor Pascal, der als Naturwissenschaftler seine Familiengeschichte erforscht. Sein Ziel ist es zu ergründen, ob der Mensch sein eigenes Schicksal beeinflussen kann, und ihn treibt die Hoffnung und der Glaube an die Menschheit an, dass so etwas wie Selbstbestimmung existiert. Ihm entgegen wirkt seine Mutter Félicité, die primär davon getrieben ist zu verhindern, dass Pascal bei seiner Aufarbeitung unangenehme Lebensabschnitte der Familie ans Tageslicht bringt.
Luk Parceval hat sich mit dieser Materie einer großen intellektuellen Herausforderung gestellt, denn das Verbildlichen eines Romans oder in diesem Falle gar einer Romanreihe ist mitnichten durch den trivialen Ablauf einer Handlung darzustellen. Wie Parceval bemerkt, ist es aber auch seiner persönlichen Lebensgeschichte geschuldet, die ihn zu diesem Werk getrieben hat. Sein eigener Großvater war 14 Jahre alt, als er in Belgien begann, in einem Bergwerk zu arbeiten. Er starb bereits im Alter von Vierzig an einer Staublunge. Nach den Erzählungen des Vaters muss das Leben ziemlich genau dem des Romans „Germinal“ entsprochen haben – unvorstellbar, einer so fernen Lebenswirklichkeit dann doch wieder so ausgeliefert und nah gewesen zu sein. Und so befindet sich Parceval selbst in der Rolle des Doktor Pascal, der seine Lebensgeschichte aufarbeitet – auf der Suche nach der Macht des Menschen sein Leben selbst zu bestimmen.
Im ersten Moment und über die Aufführung hinweg lebt das Schauspiel maßgeblich von der Impression und Topographie des Bühnenbildes. Geschaffen von Annette Kurz ist es zwar reduziert in seiner Komplexität und dennoch kräftig in Eindruck und Form. Ein schmaler Dielenparkettboden zieht sich der Breite nach über die Bühne und steigt nach hinter zu einer Welle an. Somit löst das Bühnenbild einerseits eine Assoziation zum bürgerlich gesetzten und geordnete Leben aus, andererseits baut die Welle eine Spannung auf, die stets über den Charakteren thront. Zumindest über denen, die sich gerade unten befinden oder versuchen, die Welle empor zu klettern. Andere schaffen es auch zeitweise, auf dem Wellenkamm zu reiten, genießen die Aussicht und die Lebensphase des Über-den-Dingen-Schwebens und die dazu gehörende gefühlte Dominanz. Zweites Bühnenartefakt ist ein Tau, welches etwas seitlich versetzt von der Decke baumelt und am unteren Ende eine Schlaufe bildet. Es scheint die Wechsel zwischen den Welten darzustellen und zu erleichtern – entweder unten, ausgeliefert und getrieben sein oder oben tanzend balancieren – dafür lauert hinter dem Wellenkamm als das große Risiko aber auch das ewige Nichts.
Der Handlungsfortschritt folgt keiner intuitiven Logik und erschließt sich deshalb nur etwas mühevoller für den Zuschauer, der die Romanreihe Zolas nicht studiert hat. Nun ist dies nicht unbedingt Parceval anzulasten, da es eben die Struktur der Romane so vorgibt, jedoch stellt es für den Zuschauer eine gewisse Herausforderung dar, die Zusammenhänge in der Geschichte abzuleiten. Doktor Pascal (Stephan Bissmeier) rezitiert über seine Familie und deren Geschichte. Mutter Félicité (Barbara Nüsse) trägt ausschließlich Trauerschwarz und beäugt und kommentiert die forschende Art ihres Sohnes ganz genau. Die Nichte Clotilde (Marie Jung) und Martine die Haushälterin (Oda Thormeyer) umschwirren den Herrn Doktor. Und dann gibt es noch den feinen jungen Doktor Ramond (Pascal Houdus), der die Damenwelt in Aufruhr versetzt. Dieser illustren Bourgeoisie-Gesellschaft steht die Einfachheit der Proletarier gegenüber. Im Zentrum dessen Gervaise (Gabriela Maria Schmeide), die versucht, der Armut durch eine eigene Wäscherei zu entfliehen. Gleichzeitig befindet sie sich aber im elenden Zwist zwischen ihrem Liebhaber Lantier (Sebastian Rudolph) und dem Ehemann Coupeau (Tilo Werner). Ihre Söhne Jacques und Étienne Lantier (Rafael Stachowiak und David Hofner) und die Tochter Nana (Maja Schöne) beäugen den Alkoholismus der Eltern und den unaufhaltsamen Zerfall der Strukturen. Schließlich treibt der Alkohol alle dermaßen ins Verderben, dass die Wäscherei verloren geht und Gervaise verstirbt. Ein wahrlich tragisches Ende.
So bleibt zum Schluss die Reaktion des Publikums eher verhalten. Es scheint, als habe Parceval die Zuschauer ein wenig überfordert – wenn auch mit dem hehrem Vorsatz, ein anspruchsvolles Thema auf die Bühne zu bringen. Wer nun weiß, was ihn oder sie erwartet und sich vorab ein wenig intensiver mit der Materie Zolas beschäftigt, dem ist sicherlich dieses auf einer gewissen Metaebene hochspannende zwischenmenschliche Romanschauspiel zu empfehlen. Dem nicht so versierten Schauspielbegeisterten kann ein wenig Vorablektüre nur wärmstens ans Herz gelegt werden. Eine Einführung oder auch begleitende Erläuterung im Schauspiel würde ebenfalls der Aufnahme- und Einordnungsfähigkeit nützen. Dies nur als kleine Idee am Rande.
Malte Raudszus
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