Eine tief greifende Analyse der letzten beiden Kriegsjahre 1917/1918 sowie der weltweiten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklung während der zwanziger Jahre. Tooze beleuchtet vor allem die Folgen der immensen bei den USA aufgehäuften Kriegsschulden sowie Amerikas Verhalten gegenüber den Kriegspartnern und -gegnern. Die Ursachen für das Scheitern von Woodrow Wilsons Friedensplänen stehen ebenso im Mittelpunkt wie die Ursachen und Folgen der Inflation anfangs der zwanziger Jahre und der Weltwirtschaftskrise um 1930.
In den letzten Jahren sind eine Reihe von „Jubiläums“-Büchern gleich zu zwei historischen Epochen erschienen: einerseits die Schlussphase der napoleonischen Herrschaft zwischen der Völkerschlacht von Leipzig und Waterloo und andererseits die Vorgeschichte und der Verlauf des Ersten Weltkrieges. Die beiden kurz aufeinander folgenden Weltkriege haben dabei die retrospektive Aufmerksamkeit ein wenig von der Zeit dazwischen abgelenkt, als seien diese Jahre nur ein Verschnaufen zwischen den beiden spektakulären Waffengängen gewesen. Der britische Historiker Adam Tooze hat sich jetzt der Aufgabe gewidmet, diese Epoche detailliert anhand umfangreichen Quellenmaterials darzustellen und die völlig neuartigen Konstellationen – sei es der Aufstieg der USA, sei es die russische Revolution, seien es die faschistischen Anfänge in Europa – zu analysieren.
Bei seiner Untersuchung geht Tooze weitgehend chronologisch vor, bildet jedoch weltpolitische Schwerpunkte wie Großbritannien, Frankreich, den USA, Deutschland, Russland, Japan und China, deren historische Situation er herausarbeitet und dabei vor allem die gegenseitigen Abhängigkeiten hervorhebt. Die oftmals im Raume stehende Behauptung von einzelnen „Schuldigen“, seien es die imperialistischen Briten, die kapitalistischen Amerikaner, die kriegslüsternen Deutschen oder die arroganten Franzosen, widerlegt er durch die detaillierte Schilderung der politischen oder wirtschaftlichen Sachzwänge oder der grundlegenden politischen Mentalität der Epoche.
Das Buch beginnt mit dem Eintritt der USA in den Krieg. Schon hier zeigt Tooze, dass die Amerikaner durchaus nicht begeistert an der Seite der Entente in den Krieg stürmten, sondern große Vorbehalte gegenüber dem unbedingten Siegeswillen der Engländer und Franzosen hegten. Wilson forderte schon 1917 einen „Frieden ohne Sieger“, bei dem er auch den Mittelmächten ihre Rechte einräumte. Die umfangreiche finanzielle Unterstützung der Entente in den ersten Kriegsjahren erfolgte auf rein privatwirtschaftlicher Kreditbasis und war für die US-Wirtschaft in erster Linie ein großes Geschäft. Erst als die Kredite ein bestimmtes Maß überschritten und ein Ende des Krieges nicht abzusehen war, bürgte die US-Regierung nach langen internen Diskussionen für alte und neue Kredite an die Entente.
Als Präsident Woodrow Wilson im Januar 1917 seinen schließlich – hauptsächlich! – am Widerstand der Entente gescheiterten Friedensplan vorstellte, verband er das mit der Forderung nach einem „Völkerbund“, der zukünftig alle Streitigkeiten schlichten und bei Bedarf entsprechende Sanktionen auch mit militärischer Gewalt durchsetzen sollte. Die liberalen, marktorientierten USA verstanden das imperialistische Geschacher der Europäer nicht und betrachteten es als Gefahr für einen weltweit florierenden Handel. Doch Wilson sah dabei die USA als obersten Hüter dieser Einrichtung, einerseits aus einem typisch nordamerikanischen Sendungsbewusstsein heraus, andererseits aus der intuitiven Erkenntnis, das ein „Rat“ mehrerer unabhängiger Nationen nicht funktionieren würde – wie es ja dann der „real existierende“ Völkerbund und die heutige UNO auch bewiesen. Ab einer bestimmten Machtposition lässt sich kein Staat mehr überstimmen.
Die russische Revolution stellt natürlich einen wesentlichen Punkt in Toozes Ausführungen dar, da sie nicht nur das militärische Kräfteverhältnis gravierend beeinflusste – Lenin suchte um jeden Preis nach Frieden, um die Revolution zu vollenden, und bekam ihn auch zu denkbar schlechten Bedingungen in Brest-Litowsk -, sondern sich auch als potentielle Gefahr für das westliche Gesellschaftsverständnis erwiesen. Sowohl die rein taktischen, den eigenen Überzeugungen widersprechenden Entscheidungen der Bolschewiken als auch das kurzsichtige militaristisch-imperialistische Verhalten der Deutschen wirkten sich negativ auf die internationale Position beider Länder aus. China und Japan widmet Tooze ebenfalls längere Betrachtungen. Die USA unterstützten die chinesische – nationale – Revolution, während Japan dadurch sein Einflussgebiet gefährdet sah und die USA intuitiv als zukünftigen Gegner erkannte.
Tooze betont, dass die etablierten imperialistischen Länder bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein die USA als Spieler auf der Weltbühne nicht ernst nahmen. Lange dachten England, Frankreich, Japan und auch Deutschland, man könne sich die USA zunutze machen, brauche sie aber nicht zu fürchten. Das änderte sich, als Woodrow Wilson – durchaus auch motiviert durch die US-Wirtschaft – den Entente-Mächten mehr oder weniger deutlich seine Stellung als Gläubiger vor Augen hielt. Zwar gewannen letztlich Engländer und Franzosen und nicht die Amerikaner den Krieg, da letztere noch zu wenig Kampferfahrung besaßen, aber ohne die amerikanischen Material- und Waffenlieferungen wäre die Entente Mitte 1918 am Ende gewesen.
Das wirkte sich schon bald nach Kriegsende in dramatischer Weise aus. Die Hoffnungen verschiedener Politiker und Wirtschaftler der Entente auf eine Streichung der US-Schulden erwies sich bald als Illusion, da die USA auf einer – wenn auch stark gestreckten – Rückzahlung bestanden. Vor allem forderten alle US-Vertreter die gesamten zwanziger Jahre hindurch eine strikte Trennung von Kriegsschulden und Reparationen. Dadurch war die Entente gezwungen, die Reparationsforderungen an Deutschland dramatisch zu erhöhen, zumal auch das bolschewistische Russland anfangs die Rückzahlung der Kriegsschulden an die „kapitalistisch-imperialistischen“ Westmächte ablehnte und auch später nur zu begrenzten Zugeständnissen bereit war. Da das nach dem Krieg wirtschaftlich selbst am Boden liegende Deutschland diese Forderungen nicht zahlen konnte, traten zwangsläufig Zahlungsausfälle auf, die wiederum das ebenfalls finanziell am Abgrund stehende Frankreich veranlassten, das Ruhrgebiet zu besetzen und die Reparationen in Form von Kohle selbst einzutreiben. Dieser wirtschaftliche Aderlass führte dann schließlich zur deutschen Hyperinflation des Jahres 1923, die erst durch amerikanische Hilfe beendet wurde. Zwar konnte die Entente nicht auf die Reparationszahlungen verzichten, doch sah sich zu einer weiteren Streckung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gezwungen. Allerdings entwickelte sich die Zahlungsströme immer mehr zu einem Nullsummenspiel zwischen den zwangsläufig sinkenden Reparationsleistungen und dem Schuldendienst an die USA.
Ein weitere wichtige Entwicklung der Nachkriegszeit betrifft das britische Empire. Die Auflösung des Habsburger Vielvölkerstaates und die Neuschaffung der östlichen Staaten Polen, Tschechei und Ungarn – stets mit dem Argument des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ – führten zwangsläufig zu entsprechenden Forderungen der britischen Kolonien Indien, Südafrika, Kanada und Australien. Tooze zeigt deutlich, dass der Versuch Großbritanniens, diese Forderungen mit der Einrichtung eines „Commonwealth“ selbstverwalteter Länder unter britischer Führung zu beschwichtigen, scheitern musste. Zu weit waren die Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit in diese Ländern schon gediehen. Im Falle Indiens – das damals noch das muslimische Pakistan beinhaltete – erwies sich auch die repressive Behandlung der muslimischen Türkei bei der Auflösung des Osmanenreiches als katastrophal für das Verhältnis zu Indien. Zwar konnte Großbritannien die Situation bis Mitte der zwanziger Jahre durch massive Zugeständnisse einigermaßen stabilisieren, doch der Grundstein für die Auflösung des Imperiums war bereits gelegt.
Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre erlebte dann die nationalistische Renaissance sowohl in Europa als auch in Asien. Die Reparationszahlungen, die darauf zurückführenden wirtschaftlichen Probleme und die psychologischen Folgen des von Revancheaspekten geprägten Versailler Vertrages führten zum Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. In Italien führte die Nichtbeachtung, ja geradezu Demütigung der „Siegermacht“ durch die Entente und die USA zum Aufblühen des Faschismus, und in Japan siegten schließlich angesichts der aggressiven Unterstützung der chinesischen Revolution und deren Umwandlung in eine kommunistische Revolution durch die Sowjetunion zum Sieg der imperialistisch gesinnten Militaristen. Die Weltwirtschaftskrise, initiiert durch die wegen der hohen Verschuldungen eingeführten Deflationsstrategien der westlichen Länder, kam dann erst richtig zum Ausbruch, als Großbritannien sich vom Goldstandard löste und das Pfund dadurch abwertete. Als Folge dieser Entscheidung stürzte die Wirtschaft in Frankreich und vor allem in Deutschland ab, wo wegen der rapide steigenden Arbeitslosenzahlen und der katastrophalen Situation die Nationalsozialisten ein fruchtbares Feld vorfanden.
Alle beteiligten europäischen und asiatischen Staaten in dieser Epoche mussten sich jedoch der Erkenntnis beugen, dass mit den USA ein Spieler die Weltbühne betreten hatte, der sich sehr schnell nicht als „Gleicher unter Gleichen“ sondern als unbestrittene Führungsmacht erwies , wie es sie in dieser Form seit dem Römischen Reich nicht mehr gegeben hatte. Nicht nur militärisch schlossen die USA schnell zu Großbritannien auf und überholten es in den zwanziger Jahren trotz verschiedener Abrüstungsrunden, sondern vor allem den internationalen Finanzmarkt dominierten die USA eindeutig, so dass jeder Staat – abgesehen von der Sowjetunion – darum bemüht sein musste, sich gut mit den USA zu stellen, um entweder politische oder finanzielle Hilfe – oder gar beides – von dort zu erhalten. Und die USA, vertreten durch den Präsidenten und den Kongress, stellten ziemlich schnell klar, dass politische Eskapaden zu finanziellen Sanktionen führen würden, wobei diese nicht einmal offiziell von der Regierung ausgesprochen werden mussten. Die Finanzmärkte nahmen sozusagen eventuelle politische Entscheidungen in ihren Maßnahmen vorweg. Nur Länder, die sich demonstrativ gegen das „kapitalistische“ System stellten – Deutschland, die Sowjetunion und auch Japan – konnten sich diesem Einfluss entziehen oder glaubten es jedenfalls. Die Rechnung erhielten sie 1945 oder verspätet 1989.
Adam Tooze hat die „Neuordnung der Welt“ zwischen 1917 und 1931 akribisch und in all ihren politischen, ökonomischen und – soweit nötig – militärischen Details nachgezeichnet. Dabei stützt er sich auf umfangreiches Quellenmaterial, das im Anhang sechzig Seiten einnimmt. Bei seiner Retrospektive dieser Zeit verzichtet er auf jegliche Moralisierung aus der sicheren Distanz eines Jahrhunderts. Ihm geht es nicht um nachträgliche Schuldzuweisungen oder Revisionen sondern um die Offenlegung der Zusammenhänge und Sachzwänge, unter denen die damaligen Protagonisten agierten. Dabei schält sich auch die Erkenntnis heraus, dass jede Zeit auf einer gewissen ideologischen Grundlage basiert, die Allgemeingut ist und nicht hinterfragt wird. Der Imperialismus war bis zum Ersten Weltkrieg eine solche Grundlage, und seine – abgemilderte – nationalistische Variante reichte noch weit in die zwanziger Jahre hinein. Daraus erklärt sich auch die Betonung der Schuldfrage und die Verschiebung aller Folgelasten des Krieges auf die Verlierer. Tooze zeigt an vielen Beispielen, dass damals weltweit der Verlierer eines Krieges auch als der Schuldige galt und dass diese Sicht zum ersten Mal durch die – anfangs nicht beteiligten – USA in Frage gestellt wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lernte man, die wirtschaftlichen Folgen eines Krieges von der Schuldfrage zu trennen. Außerdem überwog danach der Aufbaugedanke die nach einem verlustreichen Krieg durchaus verständlichen Rachegelüste. Doch das war leider nach dem Ersten Weltkrieg in diesem Ausmaß nicht gegeben, und so ging die Geschichte ihren Gang.
Trotz der Komplexität der Materie und der Fülle der Details verliert sich Tooze nie im Detail sondern behält eine klare Linie bei. Sein lebendiger Stil verzichtet auf Akademismen und bringt die verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Situationen verständlich und plastisch zugleich zum Ausdruck. Das Buch liest sich jederzeit angenehm und eingängig, ohne dass es deswegen ins Beliebige abgleitet.
Das Buch ist im Siedler-Verlag erschienen, umfasst 719 Seiten und kostet 34,99 Euro.
Frank Raudszus
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