Der Kosmologe Lee Smolin weist in diesem Buch nach, dass das herkömmliche wissenschaftliche Weltverständnis den Faktor Zeit weitgehend ausgeblendet hat. Dies belegt er im ersten Teil anhand einer Reihe von einleuchtenden Beispielen wie den statischen Naturgesetzen à la Newton. Im zweiten Teil entwickelt er dann neue Hypothesen, nach denen die Zeit tatsächlich ein fundamentaler Bestandteil des Kosmos ist und alle Naturgesetze sich innerhalb der Zeit und des Universums entwickeln.
Bei dem Begriff der Naturgesetze denken vor allem Naturwissenschaftler intuitiv an Isaac Newton, der als erster Wissenschaftler der Neuzeit ein konsistentes System der Naturgesetze entwickelt hat. Auch Lee Smolin beginnt – nach einer längeren Einleitung – mit dem berühmten Beispiel des fallenden Apfels, der Isaac Newton angeblich zu seinen Untersuchungen und Erkenntnissen zur Schwerkraft animiert hat. Smolin zeigt, dass die Fallgesetze mathematisch beschrieben werden können und dass dabei reproduzierbare Ergebnisse entstehen. Nun ist jedoch die Mathematik eine rein logische, von der Zeit unabhängige Größe, das heißt, sie existiert auch ohne einen physikalisch konkreten Kosmos. Mit dieser mathematischen Beschreibung der Naturgesetze existieren diese sozusagen als feste und gegenüber einem konkreten Kosmos invariante Größe. Sie ist quasi „von außen“ gesetzt, was immer mit „außen“ gemeint ist. In weiteren Kapiteln weist Lee Smolin darauf hin, dass alle bisherigen Theorien über die Naturwissenschaft- das Ptolemäische System, Newtons mechanistisches Weltbild, Einsteins Relativitätstheorie und schließlich die Quantentheorie – , nur partiell gültige Annäherungen an eine noch unbekannte, umfassende Theorie darstellen. Die oben genannten Gesetze zu Materie, Schwerkraft und elektromagnetischer Strahlung treffen dabei für isolierte System ausreichend zu. Mit „ausreichend“ meint Smolin, dass Quereffekte anderer Objekte vernachlässigt werden können. So ist die Erde nicht nur der Anziehungskraft von Sonne und Mond (Gezeiten!) ausgesetzt, sondern ebenso denselben Effekten aller Planeten und letztlich auch anderer Sternensysteme. Für die makrotechnische, d. h. auf menschliches Handeln ausgerichtete Naturwissenschaft, sind diese Einflüsse jedoch alle vernachlässigbar. Eben deshalb haben sich diese „isolierten“ Theorien auch in der Praxis durchgesetzt.
Dem herkömmlichen Raumverständnis widmet Smolin ein eigenes Kapitel. Der Raum als solcher existiert im Grunde genommen nicht, sondern wird lediglich durch die Beziehungen von Materieobjekten in ihm definiert. Einen Raum ohne Materie gibt es nicht. Daher, so schließt Smolin, ist der Raum keine fundamentale Größe der Naturwissenschaften. Letztlich ist er nur auf das begrenzte Weltverständnis der menschlichen Natur zurückzuführen.
Detailliert geht Smolin auf Einsteins Relativitätstheorie und ihr Verhältnis zur Zeit ein. Einstein hatte die „Relativität der Gleichzeitigkeit“ behauptet, die besagt, dass man bei räumlich weit auseinanderliegenden – Lichtjahre! – Ereignissen eine Gleichzeitigkeit nicht mehr nachweisen könne, da es keine herausgehobene, „absolute“ Position eines unabhängigen Beobachters gebe (alle Beobachter sind irgendwo „lokal“) und da die Lichtgeschwindigkeit endlich (und universell) sei. In Einsteins Definition des „Blockuniversums“ sind alle Ereignisse miteinander verknüpft, und die Zeit ist nur eine weitere, vierte Dimension ohne Vorrang vor den räumlichen Dimensionen. Damit ist die Zeit nur noch ein Parameter in der mathematischen Beschreibung der Welt und diese daher im Grunde zeitlos. Denn wenn es keine Körper oder Ereignisse gibt, die mit diesen mathematischen Modellen beschrieben werden können, gibt es auch keine Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in Einsteins Blockuniversum nebeneinander präsent („das Wort „gleichzeitig“ verbietet sich hier) und in einer Art Determinismus fest miteinander verknüpft. Smolin geht in diesem Kapitel detailliert auf Einsteins Sichtweise ein, erklärt Begriffe wie „Raumzeit“ und „Gravitationswellen“ sowie die Unterschiede zwischen „spezieller“ und „allgemeiner“ Relativitätstheorie und weitet seine Betrachtungen sogar auf die philosophische Ebene aus.
Die Quantentheorie hat Einsteins scheinbar noch homogenes Verständnis des Universums empfindlich gestört. Nicht umsonst hat Einstein auf die inhärente „Zufallslogik“ der Quantenmechanik mit dem Bonmot „Gott würfelt nicht“ geantwortet und diese Theorie grundsätzlich abgelehnt, weil sie seinem – letztlich deterministischen – Weltbild nicht entsprach. Für Smolin deckt auch die Quantentheorie nur einen Teil der Wirklichkeit ab, und ihre scheinbaren Widersprüchlichkeiten können nur durch eine übergreifende Theorie erklärt werden. Die rätselhafte „Verschränkung“ von Teilchen, die sich in weit auseinander liegenden Raumzeitpositionen scheinbar gleichzeitig synchronisieren, wird in der herkömmlichen Theorie dadurch erklärt, dass entweder der „reine Zufall“ seine Unwesen treibt oder dass zwischen den Teilchen zeitlose Querverbindungen bestehen, die den Rahmen der üblichen Verbindungen sprengen. Auch Smolin treibt der Widerspruch zwischen der mathematisch ableitbaren Relativitätstheorie und der nur auf statistischen Erwartungswerten beruhenden Quantentheorie um. Der grundsätzliche Konflikt zwischen den beiden Theorien lässt sich für ihn nur nur durch ein übergeordnetes, noch nicht gefundenes Konzept erklären, was beide Theorien auf den Zustand von isolierten Teilerklärungen reduziert.
Im zweiten Teil leitet Smolin seine Theorie her, dass die Zeit ein grundlegender kosmologischer Parameter ist. Die Logik beweist, dass man mit der Annahme externen ewiger Gesetze in dem Augenblick nicht weiterkommt, in dem man sich mit dem gesamten Universum beschäftigt. Denn dann kann es kein „Außen“ mehr geben, ganz gleich, wie man die Grenzen des Universums definiert. Die Gesetze müssen also im Universum selber entstehen. Smolin kommt dabei auch auf „schwarze Löcher“ als mögliche Geburtskanäle für neue Universen zu sprechen. Doch ob „Einzel-Universum“ oder „Multiversen“ – sobald man das Ganze wissenschaftlich betrachtet, müssen auch die fundamentalen Gesetze aus deren Mitte entstehen. Das bedeutet jedoch, dass sich Naturgesetze in der Zeit entwickeln müssen, da das Universum bzw. die Universen sich aus Singularitäten entwickelt haben. In einer Singularität gibt es keine Materie, kein Licht und keine verteilte Gravitation, in „lebenden“ Universen jedoch schon. Also müssen sich die Gesetze in einem logischen zeitlichen Ablauf herausgebildet haben.
Smolin ist sich im Klaren darüber, dass sich seine Theorien nicht am Objekt verifizieren lassen wie in der klassischen „lokalen“ Physik, da man nicht ein Universum testweise erzeugen und wachsen lassen kann. Man kann Theorien höchstens an den Phänomenen des existierenden Universums falsifizieren, wenn die beobachteten Zustände den eigenen Theorien widersprechen. Smolin kann also nur mit Hypothesen arbeiten, die den gegenwärtigen Erkenntnissen nicht widersprechen. Er tut dies unter anderem mit geometrischen Konstruktionen, die ein Netz von Beziehungen zwischen kosmischen Ereignissen und Objekten erzeugen. Mit diesen Netzen zeigt er, dass der Raum „emergent“ ist, d.h. sich spontan entwickelt, während als einziger fundamentaler Parameter die Zeit bleibt. Damit dreht er die herrschende „Ideologie“ des gegebenen Raums in eine der gegebenen Zeit. Ersterer entsteht spontan im Rahmen einer zeitlichen Entwicklung und kann auch wieder verschwinden, während die Zeit bleibt.
Smolin belegt seine Theorie der Zeit aus verschiedenen Perspektiven. Die Annahme einer absolut vorgegebenen Gesetzmäßigkeit ist zwar solange eine praktikable Vorgehensweise, wie man sich mit „lokalen“ Vorgängen innerhalb des Universums beschäftigt. Wird jedoch das gesamte Universum zum Gegenstand, ist eine von außen gegebene Gesetzmäßigkeit unlogisch, da es bei einer solchen Betrachtungsweise kein „außen“ mehr gibt. Weiterhin bekennt sich auch Smolin zu der Idee der multiplen Universen, und der Urknall ist keine Diskussionsgrenze mehr. Noch vor wenigen Dekaden war es wissenschaftlich „unstatthaft“, nach den Zuständen vor dem Urknall zu fragen, weil dieser nur der Endpunkt einer extrapolierten Retrospektive des vorhandenen Universums war und als Singularität nicht mehr darstellbar. Man setzte den Beginn des Universums einfach mit dem Urknall gleich und „erlaubte“ keine Fragen nach dem „Davor“. Heute dagegen betrachten die Wissenschaftler den Urknall nicht mehr als einmalige, nicht mehr hinterfragbare Singularität, sondern als ein Durchgangsstadium zur Geburt eines neuen Universums. Die Quelle dieser neuen, multiplen(!) Universen, vermutet man in den „Schwarzen Löchern“, die bekanntlich Unmengen von Materie in sich aufnehmen. Die Zeit des statischen, einmaligen Universums ist in Wissenschaftskreisen definitiv vorbei, und daher müssen die Bedingungen bei der Geburt neuer Universen diskutiert werden.
Für Smolin gibt es – wie bei der irdischen Fortpflanzung – fruchtbare und unfruchtbare Universen. Der Fruchtbarkeitsgrad hängt dabei von der Zahl der Schwarzen Löcher ab. Bei der Geburt eines Universums können kleinste Änderungen der Anfangsbedingungen gewaltige Auswirkungen haben. Zu wenig Materie kann die Bildung von Sternen und Galaxien verhindern, zu viel zu einem sofortigen Gravitationskollaps führen. Andere Masseverteilungen der Elementarteilchen als in unserem Universum können vollkommen andere Naturgesetze zur Folge haben. Dabei stellt sich Smolin sofort die Frage, ob unser Universum ein „typisches“ Exemplar oder eine einsame Ausnahme – vielleicht die einzige?? – ist. Dabei spielt das sogenannte „anthropische Prinzip“ eine Rolle, das besagt, dass nur solche Universen existieren, die durch einen intelligenten (=menschlichen?) Beobachter beschrieben werden können. Was keiner sieht, existiert nicht.
Bezüglich der Zeit gibt es theoretisch durchaus den Ansatz der Symmetrie, das heißt, dass alle Prozesse auch in umgekehrter Richtung ablaufen könnten, vor allem thermodynamische. Das erscheint uns widersprüchlich, doch die Zunahme der Entropie muss kein Naturgesetz sein. Doch in unserem Universum existiert ein klarer, d. h. kausaler Zeitpfeil, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kausal miteinander verknüpft. Dieser Zustand hängt für Smolin letztlich von den Anfangsbedingungen bei der Geburt eines Universums ab. Diese müssen stark asymmetrisch ausgebildet sein, um ein Universum unseres Typs zu schaffen. Ob andere Universen überhaupt „lebensfähig“ sind, ist eine Frage, der Smolin nicht mehr nachgeht, da ihn natürlich unser Universum vorrangig interessiert. Mit dieser zeitlichen Asymmetrie der Anfangsbedingungen entwickelt sich ein zeitorientiertes Universum mit entsprechenden Naturgesetzen, wobei diese nicht in jedem Universum gleich sein müssen.
Die Stärke von Smolins Buch liegt in dem übergreifenden Ansatz, der sowohl Einsteins Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie einbezieht und darüber hinaus nach einer fundamentalen Theorie sucht. Diese Theorie liegt noch nicht vor, wie Smolin rückhaltlos zugibt, doch der Weg dorthin führt für ihn nur über ein Konzept, in dem die Zeit eine zentrale Rolle spielt. Das große Manko bei diesen Betrachtungen liegt darin, dass man das Universum nicht physikalischen Tests unterziehen kann, um eine Theorie zu falsifizieren. Dies ist nur an Hand der vorliegenden Beobachtungen und Messungen möglich. Die für alle wissenschaftlichen Erkenntnisse wichtige Reproduzierbarkeit lässt sich hier nicht realisieren.
Auch wenn sich Smolin – erfolgreich! – um einen verständlichen Stil bemüht und auf mathematische Formeln vollständig verzichtet, ist das Buch nicht einfach zu verstehen, führt das Thema doch in völlig ungewohnte Sphären außerhalb unserer drei(einhalb)dimensionalen Welt und unserer gesellschaftlichen wie technischen Prozesse. Wir müssen uns Dinge vorstellen können, die vollständig außerhalb unseres menschlichen Erfahrungshorizonts liegen, und das ist nicht immer einfach. Dennoch lohnt sich die Lektüre dieses Buches für jeden, der einen Einblick in die aktuelle kosmologische Forschung gewinnen möchte.
Das Buch ist in der Deutschen Verlangsanstalt (DVA) erschienen, umfasst 412 Seiten (mit gut 50 Seiten Anmerkungen!) und kostet 24,99 Euro.
Weitere Buchrezensionen zu diesem Thema:
Vor dem Urknall – eine Reise hinter den Anfang der Zeit
Der Krieg um das Schwarze Loch
Frank Raudszus
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