Im 1. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt stand Anton Bruckner im Mittelpunkt.
Der Herbst bietet sich aus verschiedenen Gründen für die Aufführung einer Bruckner-Sinfonie geradezu an, besonders der Achten. Einerseits kann man Bruckners Musik als klangliche Metapher auf die überwältigende Farbenpracht dieser Jahreszeit betrachten, andererseits durchziehen die Ahnung der Vergänglichkeit und eine gewisse Todessehnsucht vor allem die 8. Sinfonie. Ein Uhrenmotiv verweist auf die unerbittlich voranschreitende Zeit, und Bruckner hat im Zusammenhang dieses Motivs selbst auf die Zeit hingewiesen, die gnadenlos auch über den Tod hinwegschreitet.
Unter letzterem Gesichtspunkt ist auch das kurze Vorspiel zu der Sinfonie verständlich, die allein schon einen Konzertabend füllt und neben sich kein anderes Werk duldet. GMD Will Humburg hatte György Ligetis „Poème Symphonique“ für 100 Metronome aus dem Jahr 1962 an den Beginn des Abends gestellt. Wer dieses Werk nicht kennt – es werden wohl die meisten aus dem Publikum gewesen sein -, erwartete ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen Orchester und den hundert Metronomen, die vorne an der Bühnenrampe aufgebaut wurden, da alle Musiker auf ihren Plätzen saßen und Will Humburg am Dirigentenpult stand. Doch nachdem einige Musiker des Orchesters die Metronome in Gang gesetzt hatten, geschah nichts, außer dass die Metronome vor sich hintickten. Allerdings stand bzw. saß das gesamte Orchester in Habachtstellung und wartete auf das Ende des Metronomspiels. Da die Metronome unterschiedlich – halt zufällig – aufgezogen und aktiviert worden waren, tickten sie unsynchronisiert in allerdings nahe beieinanderliegenden Frequenzen vor sich hin. Das ergab ein wellenartiges Klangbild, da sich die verschiedenen Frequenzen überlagerten und Interferenzschwingungen erzeugten. Kurzfristig ergaben sich Synchronismen einer Überzahl von Metronomen, doch die verschwanden schnell zugunsten anderer, kleinerer Interferenzschwingungen. Keine Sekunde ähnelte der anderen, und es lag geradezu nahe, diese versammelte Unruhe als Metapher auf die menschliche Gesellschaft und das Ticken als deren Herzschläge zu interpretieren. Mit dem Ersterben der ersten Metronome verschlankte sich das Klangbild und wurde zunehmend transparenter. Gegen Ende der etwa fünf Minuten währenden Laufzeit tickten nur noch wenige Metronome träge vor sich hin, und am Schluss schwankte nur noch ein tapferes Metronom mindestens eine Minute in langsamer werdenden Pendelschlägen vor sich hin.
In dem Augenblick, als dieses Metronom stehen blieb, setzte das Orchester mit einem weichen Hornton ein, leise begleitet von den Streichern. Daraus entwickelt sich ein sehnsüchtiges Motiv mit weltabgewendetem Gestus und im weiteren eine wahre Tonmalerei, bei denen einzelnen Instrumente oder Instrumentgruppen kurzfristig in den Mittelpunkt treten, kunstvoll von anderen umgarnt werden oder das jeweilige Motiv an diese abgeben. Das Ganze wirkt wie die Erzählung weitläufiger Geschichten mit vielen kleinen Abschweifungen, die jedoch nie belanglos klingen. Aus den eher wehmütigen Passagen entwickeln sich verzweifelte Steigerungen, die in befreiende Aufschreie münden. Der Zuhörer fühlt sich durch eine kontrastreiche musikalische Landschaft geführt, wobei eine getragende, mäßig voranschreitende Gangart vorherrscht.
Der zweite Satz, ein Scherzo mit Trio, kommt sofort mit angeschärften, fast grellen Klangfarben und rhythmisch aufbegehrenden Motiven daher. Ein markantes, aufsteigendes Motiv steht dabei im Mittelpunkt und wandert in den verschiedensten instrumentalen und dynamischen Varianten durch das ganze Orchester. Das Trio setzt dagegen anfangs ein liedhaftes, fast lyrisches Motiv, schwingt sich dann aber zu einem hymnischen Gestus auf.
Das Adagio ist der längste Satz dieser fast neunzigminütigen Sinfonie und enthält auch die zentrale Botschaft. Hier schlägt sich Bruckners tiefe katholische Religiosität am deutlichsten nieder. Sehnsuchtsvolle, lang gezogene Bögen spiegeln den Wunsch nach Erlösung wieder, Flöten und andere Holzblasinstrumente verdichten den warmen Klang tiefer Empfindung. Lange Generalpausen sorgen immer wieder für schöpferischen Stillstand, wenn die Intensität der Musik zu groß wird, und danach geht es meist mit fragenden, zögernden Motiven weiter, bis die Musik sich wieder hinaufschwingt zu choralartigen Hymnen oder in weit gezogenen Streicherbögen den Wunsch nach Frieden und Glauben ausdrückt.
Der Finalsatz beginnt mit einem fast drohenden Auftakt, der sich dann zum Majestätischen, ja Herrischen wandelt. Blechbläser-Fanfaren übernehmen für eine kurze Zeit die Regie aus dem Rückraum und verströmen höfische Pracht, die dann jedoch wieder in inbrünstige Anbetung übergeht. Ein kurzes Fugato bringt ein abgehobenes Element in die Musik, bevor sich dieser Satz noch einmal zu einem fulminanten Ausbruch aufschwingt. Schließlich endet die Sinfonie, die im düsteren c-Moll steht, in einem tröstlichen C-Dur.
Für Orchester und Dirigent stellte dieses Werk eine Herausforderung dar, die durch ihre Länge von knapp eineinhalb Stunden und die vielen dynamischen Extreme an Schwerstarbeit grenzte, Man merkte es Will Humburg nach jedem Satz an, wenn er erst einmal das Taschentuch zücken musste, bevor es weiterging. Doch er hatte sowohl die Partitur als auch das Orchester stets im Griff und konnte die Musiker sekundengenau im richtigen Moment zu Höchstleistungen motivieren. Dabei hatten dieses Mal vor allem die Blechbläser komplizierte Passagen zu bewältigen, die sie jedoch souverän meisterten. Neben den präzisen Einsätzen stach vor allem die saubere und volltönende Intonation hervor. Die Holzbläser setzten eine warme, lyrische Stimmung dagegen und sorgten damit für die richtigen Kontraste. Denn gerade diese Sinfonie läuft stets Gefahr, im dominierenden Blech zu versinken. Humburg vermied dies, indem er mit viel Sorgfalt auf Transparenz achtete und alle Stimmen zu Wort kommen ließ. Es war ein spannendes Spiel, die Wanderung der Motive durch die einzelnen Instrumte zu verfolgen und dabei festzustellen, dass keine Stimme verloren ging.
Am Ende waren alle erschöpft: Dirigent, Orchester und auch das Publikum, das eineinhalb Stunden lang durch die Extreme eines spätromantischen Klangraums geführt wurde. Auch Rezeption kann anstrengend sein, bringt aber erst dann wirklich Gewinn. Der Beifall war lang und kräftig.
Frank Raudszus
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