Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Werner Schwabs Einakter „Präsidentinnen“.
Dieses Stück stand bereits vor zwölf Jahren auf dem Spielplan des Staatstheaters Darmstadt. Damals lief es in der Werkstattbühne, und auch Gabriele Drechsel war als Erna bereits mit von der Partie. Diesmal steht sie als Mariedl auf der Bühne und lernt das Stück aus einer anderen Perspektive kennen. Bei der Regie hat sich das Staatstheater eine Neuerung einfallen lassen. Mathias Snidarec, selbst Mitglied des Schauspiel-Ensembles, betätigt sich hier als Regisseur und bringt damit sozusagen seine praktische Bühnenerfahrung in die dramaturgische Gestaltung des Stoffes ein.
Dabei geht es um drei Frauen, die in einer nicht näher definierten Umgebung zusammenleben. Der Titel „Präsidentinnen“ stellt insofern eine bittere Ironie dar, als die Frauen am unteren Rand der Gesellschaft dahinvegetieren, sich aber jede ein eigenes gedankliches Reich gezimmert haben, in dem sie rückhaltlos regieren. Bei der frömmlerischen Erna und der leicht cholerischen Grete handelt es sich um imaginäre Welten, die in die Vergangenheit der beiden Frauen zurückreichen. In Erna Welt wird ihr missratener Sohn Herrmann zur Lichtgestalt, dem nur die richtige Frau fehlt, und der Metzger Wottila ist für sie ein Bruder im Geiste, den sie schon als künftigen Lebensgefährten sieht. Grete trauert einem Ehemann nach, dessen größter Fehler nicht der Missbrauch der eigenen Tochter, sondern die Scheidung von Grete war. Sie träumt von dem Gutsbesitzer Freddy, der ihr noch einmal ein standesgemäßes Leben bieten soll. Nur Mariedls Reich ist ganz real: sie säubert Aborte, und das ganz ohne Gummihandschuhe. Wo andere ihr Selbstbewusstsein aus sportlichen, künstlerischen oder intellektuellen Leistungen beziehen, kann sie sich nur auf die unappetitlichen Details ihrer Tätigkeit stützen und tut dies mit geradezu religiöser Besessenheit.
Es liegt nahe, in diesen drei Figuren Metaphern auf Werner Schwabs Umwelt zu sehen, speziell der österreichischen. Erna steht für die in Österreich – speziell auf dem Lande – nach dem Krieg noch stark verbreitete Frömmelei, Grete für den „Schmäh“ des Bürgertums, und Mariedl für die einfachen Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit sichern. Die Drastik der einzelnen Situationen dient dann lediglich der Zuspitzung.
Mathias Snidarec hat das Stück, das sich eigentlich für die kleineren Kammerspiele anbietet, geschickt für die größere Bühne des Kleinen Hauses eingerichtet. Dazu hat ihm Cedric Kraus ein Bühnenbild gebaut, das den Raum auf einen Ort verdichtet, der für „die letzten Tage der Menschheit“ stehen könnte. Ein Sammelsurium von zufälligen Haushaltsgegenständen, die die drei Frauen vielleicht aus einer ehemals bürgerlichen Umgebung in eine letzte Unterkunft gerettet haben könnten, dominiert den vorderen Bühnenraum; der hintere Teil der Bühne ist abgesenkt und dient dazu, die Spannungen zwischen den drei Frauen darzustellen, indem Snidarec das Trio immer wieder über diese beiden Ebenen auseinanderzieht. An der Rückwand dient eine gelbe Telefonzelle als eine Art Schutzbunker für den Ernstfall. Dieser tritt tatsächlich ein, und zwar als kriegerisches Ereignis mit Lichtausfall, Schüssen und vom Himmel fallenden Bomben. Mag sein, dass Snidarec damit auf die rings um Europa tobenden Kriege der letzten Jahrzehnte anspielen will. Die Handlung selbst gibt zwar keinen Hinweis auf kriegerische Ereignisse, doch mit diesem Einschub unterstreicht er noch die endzeitliche Ausnahmesituation, in der sich die drei Frauen befinden.
Dieser Endzeitcharakter spiegelt sich auch in der Darstellung der drei Frauen wider. Snidarec lässt sie aus einem wie immer gearteten bürgerlichen Alltag heraustreten und in einer durch existenzielle Nöte aufgeladenen Umgebung ihr Innerstes nach außen kehren. Liese Lyon ist eine unflätige Grete mit einem geradezu zwanghaften Hang zum – meist sexuell orientierten – Ordinären und zu bösartigen Ausfällen gegenüber ihren beiden Mitbewohnerinnen. Karin Klein spielt eine von der Religion und vom Metzger Wottila besessene Erna, die sich des Öfteren bis zur physischen Erschöpfung in religiöse oder familiäre Hysterien hineinsteigert, und Gabriele Drechsel schließlich schwebt als Mariedl über ihren beiden Schicksalsgefährtinnen, weil sie sich als Einzige von der Welt gebraucht weiß. Diese Situation wird dann jedesmal geradezu zelebriert: wenn irgendwo ein Abort verstopft ist, ertönen Alarmsirenen, und ein vom Bühnenhimmel herabsinkender Stuhl holt sie wie eine Oberpriesterin der Aborte zu ihrem nächsten Einsatz ab. Diese und andere Regieeinfälle kann man durchaus als Tagträume der jeweiligen Figur betrachten, d. h. der banale Ruf zur Entfernung einer Verstopfung wird aus Mariedls Sicht zur weihevollen Aktion. Ähnliches gilt für Gretes Hund Lydia, der auf der Bühne als Stofftier erscheint, wobei man nicht weiß, ob auch dieser Hund wie der Gutsbesitzer Freddy nur in Gretes Wahnwelt existiert. Denn in dieser Inszenierung sind alle drei Frauen exaltiert und haben den Boden der Realität längst verlassen.
Snidarec hat sich noch eine kleine Rahmenhandlung mit großer Wirkung einfallen lassen. Anfangs zieht die vorne auf der Bühne agierende Grete – während Erna hinten einem Fernsehgottesdienst folgt – Mariedl an den Beinen aus dem Keller hervor und drapiert sie wie einen toten Körper auf einem Sessel. Diese Szene erklärt sich zum Schluss, wenn Grete und Erna Mariedl umbringen, weil sie ihnen in einer langen Suada ihre Lebenslügen auf den Kopf zugesagt und damit aus diesem hinausgetrieben hat. Die Entlarvung ihres Selbstbetruges können die beiden nicht ertragen und schreiten daher zur Tat. Doch auch dieser Mord findet nur in den Köpfen statt, denn am nächsten Tag ziehen sie Mariedls wieder aus dem Keller, und die Geschichte beginnt von Neuem – ad infinitum. Alle drei leben in Scheinwelten und Tagträumen, und so mag Mariedls Brandrede auch nur einem tagräumerischen Rachegelüst entspringen, das seine Nahrung aus der offenen Nichtachtung seitens Erna und Grete bezieht. Und diese bringen sie nur in Worten und Gedanken um, weil sie einerseits ihre fäkalen Geschichten nicht ertragen können und ihr andererseits den – erfolgreichen! – Kontakt zur realen Welt neiden.
So hat Mathias Snidarec mit der Hilfe der drei Darstellerinnen ein Vexierspiel der Sehnsüchte und Ängste geschaffen, das deutlich über den Text des österreichischen Autors hinausreicht, der sich damit offensichtlich eine biographische Bürde von der Seele geschrieben hat.
Das Publikum bedachte das gesamte Ensemble mit kräftigem Beifall, vor allem aber die drei Darstellerinnen für ihr intensives Spiel.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Jan Motyka, Jonas Götz
Text © Frank Raudszus
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