Das „Schauspiel Frankfurt“ inszeniert Alfred Döblins Hörspiel „Die Geschichte des Franz Biberkopf“.
Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts. In ihm hat der Autor die Situation einer archetypischen Großstadt wie Berlin in Zeiten des Umbruchs und wirtschaftlicher Not verdichtet und den Verlierern des „Rattenrennens“ um das tägliche Brot und die Selbstachtung ein Denkmal gesetzt. Der Transportarbeiter Franz Biberkopf hatte vor Jahren im Suff seine Freundin erschlagen und dafür mehrere Jahre im Zuchthaus eingesessen. Mit den besten Vorsätzen für ein ehrliches bürgerliches Leben kehrt er in die Freiheit zurück. Doch „die Verhältnisse, sie sind nicht so“. In seiner Drang nach sozialer Nähe und Wärme findet er die falschen Freunde, wird von ihnen betrogen und letztlich zu neuen kriminellen Abenteuern verleitet. Dabei spielt seine naive Gutgläubigkeit eine wesentliche Rolle, denn er wischt alle Anzeichen unlauterer Absichten beiseite und vertraut sich den vermeintlichen Freunden ohne Einschränkungen an, was diese weidlich ausnutzen. Bei einem Einbruch verliert er einen Arm, als ihn seine Kumpanen aus dem Auto werfen, und dennoch sucht er wieder den Kontakt zu ihnen, als sei nichts geschehen. Am Schluss verliert er auch noch seine geliebte Freundin, den einzigen Halt in diesem Leben, und stirbt mit der Erkenntnis, dass ein ehrliches Leben in dieser Welt nicht möglich ist.
Döblin hat bereits Ende der zwanziger Jahre eine Hörspielfassung des Romans mit eigenen Dialogen und zusätzlichen Personen erarbeitet, in der nicht mehr Berlin als Ganzes, sondern die Person des Franz Biberkopf im Mittelpunkt steht. Außerdem schlägt er mit einer Art Rahmenhandlung einen großen Bogen zur biblischen Geschichte des Hiob, der ebenfalls den Kelch des Lebens bis zur bitteren Neige trinken musste. Diese Hörspielfassung hat die Regisseurin Stephanie Mohr als Grundlage ihrer Inszenierung herangezogen.
Den Zuschauer erwartet weder Vorhang noch ein festes Bühnenbild. Schwarz gähnt zu Beginn der Schlund der leeren Bühne. Dann öffnet sich eine Tür in der hintersten Ecke der Bühne, und ein gleißender Scheinwerfer, der die Zuschauer den Blick abwenden lässt, begleitet den Protagonisten auf die Bühne, während die Bibelworte des „Herrn“ aus dem Off auf ihn niederfallen. Bereits dieser erste Eindruck setzt sozusagen den Maßstab für die Inszenierung: reduziertes Bühnenbild und Konzentration auf die Personen und ihre Beziehungen. Wenn für einzelne Szenen Requisiten benötigt werden, etwa Stühle oder Fenster mit Vorhängen, senken sie sich an bühnenbreiten Bügeln mit einer geradezu unheimlich wirkenden Mechanik aus dem Bühnenhimmel herab. Diese Bügel erinnern entfernt an die automatischen Transportanlagen in einem Schlachthof, und dass nicht zufällig. Denn der Schlachthof dient in dem Hörspiel als Metapher für die seelenlose, mordende Gesellschaft, und Bühnenbildnerin Miriam Busch lässt denn auch an der Bühnenrückwand die Konturen eines kopfüber nach unten stürzenden Schweines per Leuchtröhren aufleuchten, dem ein Hackebeil auch Leuchtröhren in die Seite fährt.
In dieser mal leeren, mal von abgesenkten Bügel voll gestellten Bühne irrt Sascha Nathan als Franz Biberkopf orientierungslos aber grundlos optimistisch herum. Er hat sich als Lebensmotto die Devise gewählt, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Das Glück ist eben mit dem Tüchtigen – denkt er. Doch diese Sicht ist so naiv wie seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen, denen er stets zu sehr vertraut. Dabei schält Stephanie Mohr deutlich die nur scheinbar paradoxe Tatsache heraus, dass Biberkopf steht die gut gemeinten Warnungen und Ratschläge seiner wahren Freunde – ja, die gibt es auch – in den Wind schlägt und sich den windigen Gestalten anschließt. Darin ist eine fast tragische Sucht zu erkennen, sich an die vermeintlich Starken anzulehnen und sie als Freunde zu gewinnen. Wer mit den „Großen“ spielt, wird selbst groß, denkt Franz Biberkopf und merkt nicht, dass diese „Großen“ ihn nach allen Regeln der Kunst ausnutzen.
Schon Döblin hatte darauf verzichtet, nach den „Schuldigen“ der gesellschaftlichen Misere zu suchen, und sich vor allem davor gehütet, den „Kapitalisten“ in der Art eines Schnellschusses als Urheber alles Bösen zu denunzieren, wie es Bertold Brecht gerne tat. Döblin wollte die Zustände und ihre menschliche Tragik darstellen und kritisieren, aber keine wohlfeilen Urteile über Gut und Böse fällen. Stephanie Mohr folgt ihm in dieser Sicht auf die gesellschaftliche Situation und weist in ihrer Inszenierung auch dem gebeutelten Individuum eine gewisse Mitschuld an der eigenen Misere zu, eben die Schuld der Naivität und der Gutgläubigkeit.
Um das Archetypische der Situation hervorzukehren, lässt Stephanie Mohr alle Darsteller mit stark geschminkten Gesichtern auftreten, die dadurch clownshafte bis totenähnliche Züge annehmen. Weiße Gesichtsschminke, tief geränderte Augen und optisch verzerrte Münder machen diese Menschen zu Karikaturen der Gattung Mensch. Biberkopf dagegen läuft als einzige ungeschminkt durch das Panoptikum der Typen. Auch hier spiegeln sich der Konflikt und die Entfremdung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft wider.
Die Position des allwissenden Autors – respektive der Regie – nimmt in dieser Inszenierung der Tod ein. Von Till Weinheimer mit wirklich gruseliger Maske gespielt, ist er permanent präsent und kommentiert sämtliche Ereignisse aus der Sicht des abgeklärten Wanderers durch die Jahrtausende, der schon alles gesehen hat und sich durch nichts erschüttern lässt. Dieser Tod hat etwas von dem hintergründigen Humor des Goetheschen Mephisto an sich und konterkariert in gewisser Weise die emotional aufgeladenen Szenen um Franz Biberkopf, seine Geliebte Mieze, seine Freunde und seine Feinde. Seine ironisch gebrochene, aber nie zynische Sichtweise löst sich von der rein individualistisch emotionalen Ebene und verweist auf die immergleichen Strukturen menschlicher Gesellschaften. Biberkopfs Probleme sind singuläre Erscheinungen, hervorgerufen durch zeitgebundene politische oder gesellschaftliche Kräfte, sondern sie existieren schon seit Jahrtausenden und spiegeln im Grunde die „conditio humana“ wider. Wer das als zynischen, relativierenden Kommentar auffasst, verkennt die Erfahrungen von mehreren tausend Jahren menschlicher Geschichte. Die Kommentare des „Todes“ sind daher keine Bagatellisierung, sondern sie verweisen auf nichts anderes als die Selbstverantwortung des Menschen. Nicht die Kapitulation vor den Zumutungen des Lebens ist die Lösung, sondern eine innere und auch äußere Wehrhaftigkeit. Gerade diese Schwäche Biberkopfs, so höhnisch es klingen mag, macht der Tod dem sterbenden Biberkopf zum Vorwurf und fordert von ihm Reue für seinen (naiven) Hochmut.
Neben dem Tod als außenstehendem Mitspieler reichert Stephanie Mohr das Bühnengeschehen noch mit der dreiköpfigen Band „The Tiger Lillies“ an, die zwischen den einzelnen Szenen auftreten und dazu passende Moritaten vortragen. Ebenfalls als Zombies zwischen Diesseits und Jenseits geschminkt, verstärken sie – im Verein mit dem ironischen Tod – noch die endzeitliche Stimmung auf der Bühne. Warum aber die Lieder in englisch vorgetragen werden, bleibt unerfindlich. Die zugegeben ein wenig jenseitig klingende Kopfstimme des Sängers Martyn Jacques trifft zwar die Atmosphäre des Stücks punktgenau, doch leider dient sie nicht der Verständlichkeit. Dass die Texte selbst Kommentare zu der Tragik des Franz Biberkopf sind, kann man an wenigen Schlüsselworten erkennen. Der Sinn erschließt sich jedoch erst bei der Lektüre im Programmheft nach der Vorstellung. Hier wären deutsche Texte, gut verständlich gesungen, ein deutlicher Gewinn.
Insgesamt ist dem Schauspiel Frankfurt mit dieser Inszenierung ein überzeugender Wurf gelungen. Konzentriert und ohne unnötige Abschweifungen oder plakative politische Assoziationen erzählt sie eine Geschichte, die sich so oder ähnlich immer wieder abspielt, durchdringt die psychische Situation des Protagonisten, zeigt aber auch Beweggründe und die teilweise ausweglose Situation der anderen Figuren. Es gibt nie nur ein Opfer, sondern eine ganze Palette davon, und jeder hat seine eigene Sicht der Welt und versucht, darin zurecht zu kommen. Das eigentlich Tragische weil wohl nicht Änderbare daran ist die Tatsache, dass auch das Böse ein Teil dieser Welt ist und von seinen Protagonisten durchaus nicht als solches begriffen wird.
Frank Raudszus
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