Eine kritische Bestandsaufnahme der digitalen Technik und des Internets.
Evgeny Morozov ist derzeit der „Star“ unter den Internet-Kritikern und wird entsprechend zwischen den führenden Zeitungen (sic!) – New York Times, FAZ, u.a.m. – herumgereicht. Der erst einunddreißigjährige Weißrusse hat unter anderem in Stanford studiert und setzt sich seit einigen Jahren kritisch mit den Implikationen der digitalen Technik, speziell den Auswirkungen des Internets, auseinander. Das vorliegende Buch ist nach dem 2011 erschienenen The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom bereits das zweite mit dieser Ausrichtung.
Morozov stellt zwei Begriffe in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: „Solutionismus“ und „Internetzentrismus“. Unter ersterem versteht er das Konzept, für alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder gar politischen Probleme technische Lösungen zu suchen. Dahinter sieht er eine Ideologie am Werke, die alle Probleme nur auf mangelhafte Informationen und Ineffizienz der Abläufe zurückführt. Mit einem solchen Ausgangspunkt bietet sich die Technik natürlich als idealer Lösungsansatz an. Morozov betont, dass der Solutionismus kein Phänomen des Internetzeitalters (diesen Ausdruck würde er schon ablehnen) sei, sondern sich vor allem bei technischen Sprüngen immer wieder wellenförmig ausgebreitet habe. Diese Ideologie übersieht seiner Meinung nach konsequent, dass jegliche Art gesellschaftlicher Probleme und Konflikte im Diskurs der Betroffenen zu klären und nicht mit mechanistischen Mitteln zu lösen sei.
Unter „Internetzentrismus“ versteht er die Mystifizierung des Internets zu einem epochalen, dem Menschen quasi durch die Evolution geschenkten Sprung auf eine höhere soziale und mentale Ebene. Für die Internetzentristen ist laut Morozov seit der Etablierung des Netzes alles anders und sämtliche überkommenen Werte und Paradigmen obsolet. Konsequenterweise sind alle Internetkritiker rückständige Konservative, wenn nicht Reaktionäre, die den Lauf der (Internet-)Welt nur verlangsamen aber nicht mehr stoppen können. Typische Vertreter des Internetzentrismus sind für Morozov natürlich Firmen wie Google und Facebook. Zusammen mit dem Solutionismus, der für Morozov mit dem Aufkommen des Internets wieder eine Renaissance erlebt, errichte der Internetzentrismus eine „schöne, neue Welt“, die den Menschen letztlich seiner Autonomie und Würde beraube.
Diese Diagnose belegt Morozov anhand einer Reihe entsprechender Beispiele aus der Internetliteratur. So zitiert er eine Autorin, die das Internet mit der Erfindung der Druckerpresse vergleicht und der Drucktechnik eine ähnliche epochale Bedeutung zuweist wie heute dem Internet. Morozov sieht hier einen grundlegenden Fehler am Werke, der auch für den Internetzentrismus gelte: die Drucktechnik werde einfach als epochal gesetzt, ohne sie im Detail mit der Welt davor zu vergleichen und die Unterschiede herauszuarbeiten. Wenn das Bauchgefühl – oder ein ideologisch bzw. kommerziell motiviertes Wunschdenken – eine solche Epochalität statuiert, gelte diese gleich als erwiesen. Diese perspektivische Verzerrung belegt Morozov im Fall der Drucktechnik eher kursorisch mit einigen kritischen Fragen, da es ihm hier nicht um die Aufarbeitung alter Technikvorstellungen geht. Die Drucktechnik und ihre historisch Einordnung eignen sich jedoch wegen ihrer auch von Morozov unbestrittenen Bedeutung ausgezeichnet als „Blaupause“ für den Singularitätscharakter des Internetzentrismus.
Ausgehend von dieser „dualen Ideologie“ untersucht Morozov deren praktische Auswirkungen und kommt dabei auf die Begriffe „Offenheit“ und „Transparenz“ zu sprechen, die er als Fetische der Internetgemeinde betrachtet. Die Offenheit werde von den Internet-Jüngern „per se“ als moralisch gut angesehen, und jede Art von proprietären Lösungen oder Urheberrechtsansprüchen gelte als reaktionär und internetfeindlich. Morozov selbst betont, dass er die Idee der Offenheit prinzipiell akzeptiere, ihre Notwendigkeit müsse jedoch in jedem Fall analysiert und diskutiert werden und dürfe nicht apodiktisch eingefordert werden. Diese Offenheit betrifft nicht nur die Freigabe von Code sondern auch persönlicher Daten. Firmen wie Facebook propagierten die Freigabe privater Daten der User als Zeichen der „Authentizität“ und näherten sich damit zwangsläufig dem Begriff der „Transparenz“. Werde diese bei Privatnutzern noch als Voraussetzung einer offenen Kommunikation mit „Freunden“ gepriesen, so mutiere sie gegenüber staatlichen Behörden und Politikern quasi zur Pflicht. Aus der Internetgemeinde werde ein zunehmender Druck auf alle öffentlichen Institutionen und Persönlichkeiten ausgeübt, sämtliche Aktivitäten – bei Personen auch private – zu veröffentlichen. Morozov verweist dabei auf entsprechende Vorreiter in der Industrie, die ihr Leben nicht nur minütlich „tracken“, sondern die Informationen auch vollständig veröffentlichen. Morozov betont demgegenüber die Notwendigkeit eines Rückzugsraums nicht nur für Personen sondern auch für Institutionen, da in vielen Fällen eine vollständige Transparenz eher schädlich als nützlich sei. Offenkundig ist dies bei personellen Fragen der Fall, aber auch bei der Sicherheit oder in anderen politischen Fragen seien vertrauliche Beratungen eine Notwendigkeit.
Die Propagierung totaler Offenheit aller privaten Daten ist für Morozov eindeutig ökonomisch motiviert, da sich mit den Daten der User beliebige Profile erstellen lassen, die wiederum der Werbeindustrie und deren Kunden zugute kommen. In diesem Falle – doch nicht nur hier – appelliert Morozov an seine Leser als eben diese User, sich nicht von der Transparenz-Ideologie einfangen zu lassen sondern die eigene Individualität zu bewahren und zu schützen.
In diesem Zusammenhang greift Morozov auch die Visionen auf, politische Wahlen und – als Fernziel – die gesamte repräsentative Demokratie durch ein Basisdemokratie des Internets in Form permanenter Online-Abstimmungen zu ersetzen. Deren Vordenker wollten damit die „Heuchelei und Lügen“ der etablierten Politik ein für allemal ausschalten, übersähen jedoch, dass die damit nur dem Populismus und der Demagogie der Straße Vorschub leisten würden. Für Morozov ist diese Art der Direktdemokratie keine Alternative zur existierenden, durchaus auch von menschlichen Schwächen geprägten parlamentarischen Demokratie, da eine „Internet-Demokratie“ nie langfristige Entwicklungen planen oder gar schwierige Kompromisse zwischen unterschiedlichen Interessengruppen aushandeln könne.
Der Selbstoptimierungswahn ist für Morozov eine andere Variante der menschlichen Selbstaufgabe. Smartphones, die alle täglichen Aktivitäten des Users messen und an zentrale Stellen – Versicherungen, Gesundheitswesen, Freunde… – dienen für ihn nur vordergründig dem Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft. In letzter Konsequenz würden Gesundheit und Lebensführung damit kommerzialisiert und auf den individuellen Vorteil reduziert. Am Ende komme es zu einer – weiteren – Spaltung der Gesellschaft in gesunde Gewinner und kranke Verlierer, unabhängig von den Gründen für Krankheit und Gesundheit.
Im Zusammenhang damit geißelt Morozov auch die im Internet zunehmend anzutreffenden „Spiele“ für einen guten Zweck, sei es Gewichtskontrolle, Mülltrennung oder Parkraumbewirtschaftung. Immer öfter würden hier Belohnungssysteme implemetiert, die gewünschtes Verhalten mit entsprechenden Punkten und Gewinnen belohnten. Messung und Überwachung ließen sich mit dem Internet leicht implementieren, und die User würden aus kurzfristigen Gewinnüberlegungen begeistert mitmachen. Dabei würden sie jedoch die Fähigkeit verlieren, aus freien Stücken und grundsätzlichen Überlegungen zu handeln, was letztlich der Tod einer freien Gesellschaft sein müsse. Dazu gehört für Morozov auch die Kriminalitätsprävention, die vermehrt mit Internetüberwachung und/oder Belohnungssystemen arbeite. Dabei verweist er u. a. auf das selbstfahrende Auto von Google (sic!), das die freie Entscheidung des Fahrers für oder gegen die Verkehrsregel durch eine technische Regelung ersetze. So werde den Bürgern Stück für Stück die Autonomie bei grundlegenden Entscheidungen genommen und die menschliche Würde eingeschränkt.
Beim internetzentrierten Solutionismus spielen Algorithmen eine immer größere Rolle.Die im Internet gesammelten Datenmengen – „Big Data“ ist hier das Stichwort – bieten eine hervorragende Grundlagen für alle möglichen statistischen oder handlungsorientierten Auswertungen. Diese lassen sich mit immer ausgeklügelteren Algorithmen so lange verfeinern, bis der hinter den Profilen stehende Mensch nicht nur bis in den letzten Winkel erforscht sondern auch beliebig gesteuert werden kann – und das dank des suggestiven Marketings mit „Offenheit“ und „Transparenz“ mit seinem vollem EInverständnis.
All diese Kritikpunkte und Einwände gegen die digitale Technik und das Internet bedeuten jedoch nicht, dass Morozov prinzipiell gegen Technik und Internet eingenommen ist. Er selbst war mal ein Internet-„Fan“ und ist erst spät vom Saulus zum Paulus konvertiert. Noch heute sieht er die vielen Vorzüge dieser Technik und möchte sie in vielen (den meisten??) Fällen nicht missen. Doch die unreflektierte Perfektionierung der Technik im Sinne eines selbstreferentiellen Effizienzgewinns betrachtet er mit größter Skepsis und appelliert an alle Teilnehmer – Techniker, Ökonomen, Politiker, User – die (Internet-)Technik zu hinterfragen und ihren Einsatz in jedem Fall anhand allgemeiner gesellschaftlicher und ethischer Kritierien zu diskutieren. Eine Lösung um der Lösung willen, „weil es geht“ , ist für ihn der schlechteste Ansatz.
Morozovs Buch ist sozusagen die Sachbuchversion von Dave Eggers´ Roman „Der Circle„, der die Themen „totale Transparenz“, „Überwachung“ und „Steuerung durch Algorithmen“ belletristisch abgehandelt hat. Was man dort intuitiv versteht und emotional aufarbeitet, wird hier noch einmal analytisch aus verschiedenen Perspektiven aufgearbeitet.
Bei aller Ausgewogenheit der Argumentation und der Betonung guter alter bürgerlicher Tugenden gegenüber technischen Lösungen irritiert eine Kleinigkeit. In der abschließenden Danksagung verweist Morozov auf seine weißrussische Heimat, in der er das Buch fertiggestellt hat, und charakterisiert diese als „Oase der Toleranz in Europa“! Man könnte dies angesichts der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Weißrussland als (abgrundtiefe) Ironie betrachten, doch für eine ausgeprägte ironische Mentalität des Autors bieten weder die restliche Danksagung noch das Buch selbst einen Hinweis. Nimmt man es als – naive – Überzeugung, dann kann es mit dem politischen Bewusstsein, das Morozov über lange Strecken des Textes zeigt, nicht besonders weit her sein. Oder steckt dahinter eine typische, für Westler nicht nachvollziehbare (weiß)russische Mentalität, die die Nation vor alle Wertesysteme stellt und eine autoritäre Führung (siehe Putin) als eine natürliche Regierungsform betrachtet?
Das Buch ist im Blessing-Verlag erschienen, umfasst 600 Seiten und kostet 24,99 Euro.
Frank Raudszus
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