Anlässlich des 175. Geburtsjahres Peter Tschaikowskis präsentiert das Rheingau-Musik-Festival zwei große Werke des Komponisten.
Angesichts des eher traurigen Zustands der politischen Situation Russlands scheint das Rheingau-Musikfestival bei der Planung des diesjährigen Programms ein wenig die Völkerverständigung im Auge gehabt zu haben. Nicht nur widmeten sie einen ganzen Abend ausschließlich russischer Musik, auch die Interpreten stammten aus Russland. Vladimir Jurowski, Jahrgang 1972, dirigierte das „London Philharmonic Orchestra“, und der erst vierundzwanzigjährige Daniil Trifonov interpretierte Peter Tschaikowskys berühmtes Klavierkonzert in b-Moll.
Zum Auftakt spielte das Orchester jedoch Michail Glinkas – auch er ein Russe – Walzer-Fantasie in h-Moll. Dieses Stück erinnert vom ersten Takt an Ballettmusik. Leichtfüßig, fast schwebend kommen die tänzerischen Motive daher. Man fühlt sich eher an Wiener Walzerseligkeit als an die angebliche gefühlige Tiefe russischer Musik erinnert. Diese Komposition bildete einen idealen Auftakt zu dem bevorstehenden Programm, da es die Ohren und Herzen für die Musik öffnete, ohne gleich zu Beginn zu viel von den Zuhörern zu verlangen. Hier ging es nicht um emotionale Eruptionen wie Verzweiflung oder Leid, sondern einfach um die Schönheit schwungvoller Melodien. Das Orchester präsentierte dieses kleine Juwel mit hoher Präzision und Leichtigkeit, und Dirigent Jurowski deutete nicht mehr Bedeutung hinein, als dieses Stück trägt.
Danach kam einer der bedeutendsten „Ohrwürmer“ des 20. Jahrhunderts zu Gehör. Das erste Klavierkonzert von Peter Tschaikowski ist wegen seiner Fulminanz und der durchaus bombastischen Wirkung so oft vor allem im Radio gespielt worden, dass man sich daran schon „überhört“ hatte. Ein Schicksal, das auch andere Werke wie Mozarts „Kleine Nachtmusik“ oder Beethovens „Fünfte“ schon ereilt hat. So können Erfolg und Beliebtheit für ein Kunstwerk zum Bumerang werden. Allerdings birgt Tschaikowskis Klavierkonzert auch alle Ingredienzen für einen „Ohrwurm“ in sich: eingängige Melodien, lange, auf und ab donnernde Akkordketten und viel Schmelz, vor allem im zweiten Satz. Daniil Trifinov zeigte vom ersten Anschlag seine herausragende Stellung im aktuellen Klavierbetrieb. Mit einem Körpereinsatz, der an Glenn Gould erinnert, nimmt er geradezu Besitz von seinem Instrument. Dabei scheint er förmlich in die Tastatur hineinzukriechen, beugt sich mit gekrümmtem Rücken mit dem Gesicht zu den Tasten hinunter und beschwört die Töne geradezu. Die Hände formen den Klang mal mit intensiver Dringlichkeit, dann wieder hämmern sie die Akkorde in die Tasten. Mit seiner kompromisslosen, alles vereinnahmenden Art zu spielen schlug er sofort das Publikum und offensichtlich auch die Orchestermusiker in seinen Bann. Wladimir Jurowski ließ ihm denn auch in seinen langen Solopassagen viel Raum und versuchte nie, das Orchester gegen ihn in Stellung zu bringen. Doch dort, wo das Klavier eher eine untermalende Rolle spielt, ließ Wladimir Jurowski das Orchester zu Hochform auflaufen und präsentierte sich als echten Partner des Solisten. Dabei ist die Leistung des Dirigenten nicht hoch genug einzuschätzen, verweigerte doch Trifonov jeden Blickkontakt mit Dirigent und Orchester und versank ganz in sein Spiel. Da er jedoch auf extreme Tempoänderungen verzichtete, war es Jurowski und dem Orchester möglich, ihm auch ohne Augenkontakte zu folgen und das Orchester auf das Spiel des Solisten einzustellen. Jurowski gönnte dem jungen Pianisten die Ausnahmerolle des bezwingenden Solisten, ohne deswegen das Orchester zu einer Statistenrolle zu degradieren. Präzision und Präsenz waren die hervorrstechenden Merkmale dieser Interpretation eines musikalischen Werks, das man schon fast „totgespielt“ wähnte, das an diesem Abend aber wieder zu frischem, unverfälschtem Leben erwachte.
Das Publikum brach nach dem – natürlich donnernden – Schlussakkord in Beifallsstürme aus und applaudierte so lange, bis Trifonov mit der von ihm selbst komponierten „Rachmaniana“ – offensichtlich eine Hommage an Rachmaninov – noch eine virtuose Zugabe spielte.
Den zweiten Teil des Konzerts füllte Peter Tschaikowskis sechste und letzte Sinfonie – die sogenannte „Pathétique“, die wenige Tage vor dem Tod des Kompnisten uraufgeführt wurde. Man darf durchaus einige Rückschlüsse von der Sinfonie auf Tschaikowskis (Frei?)Tod und umgekehrt ziehen. Seinen eigenen Worten zufolge handelt sie von Liebe, Enttäuschung und Tod, und sie endet auch nicht mit einem Presto- oder Allegro-Finale und mit heftigen Schlussakkorden, sondern mit einem Adagio-Satz, der am Ende leise verklingt, so wie das Leben einen ermatteten Körper verlässt.
Bis zu diesem Ende jedoch werden einige Phasen heftiger Emotionen durchlaufen. Entgegen der Konvention eines bewegten Kopfsatzes beginnt die Sinfonie mit einem sehnsuchtsvollen Adagio, das später in ein verhaltenes Allegro übergeht. Dem setzt der zweite Satz ein tänzerisches, fast schon optimistisches Motiv aus der russischen Volksmusik entgegen. Man hat das Gefühl, es gehe dem Komponisten seelisch wieder besser. Ungewöhnlich ist hier der 5/4-Takt, der für Aufbruch und Widerstand gegen einengende Konventionen steht. Doch der dritte Satz bringt dann den Ausbruch der Verzweiflung mit einem „Allegro molto vivace“. Ein trotziger, aufbrausender Marsch fegt alle lyrischen Gedanken beiseite und verweist auf die dunkle und schmerzliche Seite des Lebens. Der Finalsatz schließlich besteht im Wesentlichen aus zwei absteigenden Motiven in einem getragenen 3/4-Takt, die Resignation, Erschöpfung und Entsagung ausdrücken.
Wladimir Jurowski modellierte die unterschiedlichen emotionalen Stimmungsbilder mit hoher Präzision und viel Gespür für das Detail heraus. Das Orchester folgte ihm dabei nicht nur willig sondern mit höchster Konzentration und bestechender Intonationskunst. Besonders die Blechbläser beeindruckten durch ihre Intonationssicherheit und den warmen, emotionsgeladenen Ton. Das bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Instrumentengruppen dagegen abfielen, doch entsprechende Soli der voluminösen Blechblasinstrumente üben eine wesentlich stärkere Wirkung aus, vor allem, wenn man weiß, wie schwer diese Passagen mitunter für die Bläser sind. An diesem Abend gab es keinen einzigen unreinen oder nicht ganz gelungenen Ton. Jeder saß vom ersten Moment des Anblasens bis zum Verklingen des letzten. Ähnliches gilt für die Flöten und Klarinetten, deren silbriger bzw. warmer Ton das Klangbild emotional anreicherten. Tschaikowksi zieht in dieser Sinfonie alle Register des romantischen Klangraums, und Wladimir Jurowski gelang es, alle Instrumentengruppen zu technischen und interpretatorischen Höchstleistungen zu führen. Daraus ergab sich ein harmonisches, in sich abgerundetes Klangbild, das auch in den expressiven Phasen vor allem des dritten Satzes nie in bloße Dissonanz zerfiel.
Auch dieses Werk, das ähnlich wie Tschaikowskis Klavierkonzert seit längerer Zeit im Konzertsaal kaum zu hören war, erlebte hier eine Renaissance, die den ganzen klanglichen Reichtum dieses Komponisten wieder zum Vorschein brachte.
Großer Beifall eines begeisterten Publikums.
Frank Raudszus
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