Grigorij Sokolov spielt im Kurhaus Wiesbaden Bach, Beethoven und Schubert.
Grigorij Sokolov ist seit Jahren Stammgast beim Rheingau Musik Festival. Spielte er anfangs noch auf Schloss Johannisberg, so ist er wegen der übergroßen Nachfrage des Publikums bereits seit zwei Jahren nur noch im großen Saal des Kurhauses Wiesbaden zu hören (und zu sehen). Eigentlich schade, denn auf Schloss Johannisberg ist die Atmosphäre noch vergleichsweise intim. aber das ist wohl der Tribut, den man an den Ruhm des Interpreten zahlen muss.
In diesem Jahr musste man also wieder nach Wiesbaden pilgern, und das Kurhaus war wieder bis auf den letzten Platz ausverkauft. Draußen herrschte sommerliche Hitze, und anfangs herrschten im Foyer auch noch angenehme Temperaturen. Das sollte sich jedoch im Saal bald ändern, denn die Klimaanlage kann an solch schwül-warmen Tagen im voll besetzten Saal auch keine Wunder bewirken. Doch für den zu erwartenden Kunstgenuss war man bereit zu leiden, und bei Grigorij Sokolov lohnt es sich sowieso.
Dieses Mal hatte er ein Programm zusammengestellt, dass so gar nicht sommerlich heiter anmutende. Die Schwere der aufgeheizten Atmosphäre schlug sich in den Stücken des Abends nieder, und das wirkte wie beabsichtigt. Es schien, als wollte Grigorij Sokolov an diesem Abend auf den Zustand der Welt hinweisen – Ukraine, Griechenland, Flüchtlingsdrama – und diesen in den Stücken und seiner Interpretation spiegeln.
Als Einleitung hatte er Johann Sebastian Bachs „Partita Nr. 1“ gewählt, die noch ein wenig die Distanz zu allem Weltlichen ausstrahlte. Dieses Musikstück besteht zwar neben einem Präludium aus fünf Tänzen – Allemande, Courante, Sarabande, Menuett und Gigue -, doch sind dies keine Tänze im Sinne von Frohsinn und Ausgelassenheit, sondern wohl strukturierte und strenge Sätze, die zwar im Grundtempo dieser Barocktänze verfasst sind, aber keineswegs für Tanzveranstaltungen gedacht waren. Sie erscheinen eher als eine säkulare Version der geistlichen Musikwerke des Komponisten. Die Distanz zu allem weltlichen Vergnügen ist aber zugleich auch eine zu Melancholie und Schwermut. Bach bewegt sich hier auf einer äquidistanten Mittellinie zwischen beiden Seelenzuständen der Weltlichkeit.
Sokolov spielte die Partita mit eben dieser Distanz, wobei Ernst und Nachdenklichkeit eher überwogen. Selbst das Menuett – dem Tanz am nächsten – und die bewegte Gigue am Ende blieben stets im Korsett der Bachschen Metrik, und Sokolov verzichtete bewusst auf emotionale Schattierungen wie etwa ausgeprägte Raubati oder übermäßige Wechsel der Dynamik. Nach dieser Konzerteröffnung war das Publikum für die Musik geöffnet, ohne bereits emotional gefordert zu sein.
Das änderte sich mit Beethovens Sonate Nr. 7. op. 10 Nr. 3. Dieses Stück ist durchgehend von tiefer Verinnerlichung und hoher Binnenwirkung geprägt. Bereits der erste Satz trägt zwar typisch beethovensche Züge, doch eher im Sinne einer düsteren Ahnung denn als Auflehnung oder Befreiung. Die Aufklärung, sonst ein Movens in der Musik Beethovens, spielt hier eine geringere Rolle als die düstere und pessimistische Sicht auf das Leben. Obwohl in D-Dur stehend, wirkt diese Sonate nie „königlich“ oder „festlich“ sondern seltsam verinnerlicht und fast weltabgewandt. Die einzelnen Themen führen selten in die Höhe, dafür immer wieder in langen Ketten – mal akkordisch, mal chromatisch – in die Tiefe. auch die Motive selbst zeigen keine eruptiven, sondern eher introvertierte Eigenschaften. Der zweite Satz – ein Largo – ist der Kern der Sonate. Hier soll Beethoven laut Aussagen eines Zeitgenossen einen melancholischen Menschen – heute würde man von Depressionen sprechen – charakterisiert haben. Schwere, in sich gekehrte Montive wechseln sich mit kurzen, geradezu verzweifelten Ausbrüchen ab, die jedoch keine Hoffnung auf Befreiuung ausdrücken sondern das Leiden eines depressiven Menschen. Sokolov brachte diese Gegensätze zwischen stummem, in die Tiefe führenden Leid und dem Aufschrei von dort derart überzeugend zum Ausruck, dass man den Schauer auf dem Rücken verspürte. Daran konnte auch das etwas leichtere Menuett des dritten Satzes nichts ändern, das nur wie ein Luftholen wirkte, bevor das Rondo des letzten Satzes die Grundstimmung des ersten wieder aufnimmt. Auch hier keine leichte, tänzerische Aussage, sondern eine strenge Abfolge kurzer, beharrlich-drohender Motive. Kontraste prägen auch diesen Satz, und Sokolov brachte dies mit akzentuiertem, kompromisslosen Spiel zum Ausdruck. Besonders bei den kurzen Fortissimo-Stellen reizte er den Resonanzraum des Flügels voll aus und spielte sie als wahre Eruptionen.
Der zweite Teil setzte den Trend der melancholischen Musik fort. Schuberts Sonate a-Moll D 784 entstand zwar fünf Jahre vor seinem Tod, doch zeichnet sie sich durch eine besondere Schwermut oder gar Todesahnung aus. Man nimmt an, dass Schubert kurz vorher von seiner Syphilis-Erkrankung erfahren hatte und darunter sehr litt. Mit Sicherheit wird er sich dabei auch mit Todesgedanken beschäftigt haben. Nicht umsonst steht die Tonart a-Moll für Schmerz, Leid und Tod. Alle drei Sätze durchzieht die gleiche Grundstimmung, die weit über die für Schuber sonst typische Wehmut bzw. Sehnsucht hinausgeht und jenseits dieser noch am Leben orientierten Emotionen ins Düstere abgleitet. Dabei erinnert der erste Satz erstaunlich an das viel spätere „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski, und der dritte Satz weckt mit seinem silbrig flirrenden Beginn Assoziationen an Sematanas „Moldau“. Keine Hoffnung ist in dieser Sonate zu spüren, sondern eher ein Abgesang auf das Leben. Grigory Sokolov malte diese Seelenzustände behutsam und doch deutlich heraus, ohne dabei je in Larmoyanz oder gar Gefühligkeit zu verfallen. Konsequent deutete er die Sonate bis zum letzten Akkord aus und ließ keinen Zweifel an der Grundaussage.
Als letztes standen die sechs „Moments musicaux“ von Franz Schubert auf dem Programm. Sokolov verzichtete jedoch nach der Sonate auf eine Pause und den entsprechenden Beifall und schloss diese sechs Musikstücke unmittelbar an. Warum er das tat, lässt sich schwer beurteilen. Die „Moments“ sind kurze Stücke, die jeweils eine konkrete seelischen Befindlichkeit zum Ausdruck bringen sollen. Sie sind zwar nicht leicht und ausgelassen sondern introvertiert und passen somit zu der vorangegangenen Sonate. Doch bilden sie keine zusammenhängenden musikalischen Spannungsbogen sondern stehen jeweils allein für sich. In gewisser Weise heben sie durch ihre geringe „Verbindlichkeit“ die Wirkung der Sonate wieder auf. Vielleicht wollte Sokolov gerade die und etwas ansatzweise Versöhnliches ans Ende stellen. Eine andere Interpretation wäre die, dass er den gesamten Schubert-Teil als „ein“ Werk kennzeichnen, also die Grundhaltung Schubertscher Klaviermusik mit diesen so unterschiedlichen Stücken aufzeigen wollte. Das gelang ihm in vollem Umfang.
Das Publikum zeigte sich mehr als begeistert und spendete nicht endenden Beifall, so dass Grigorij Sokolov sich zu insgesamt sechs(!) Zugaben – unter anderem Schubert und Chopin – hinreißen ließ, die teilweise konzertanten Umfang einnahmen. Dadurch dehnte sich der Klavierabend auf insgesamt drei Stunden aus, was jedoch niemanden zu stören schien. Niemand verließ vorzeitig den Saal, und wenn Sokolov nach der sechsten Zugabe nicht hinter der Bühne geblieben wäre, würde er wohl die ganze Nacht vor vollem Haus gespielt haben.
Wir freuen uns schon auf seinen Auftritt beim nächsten Rheingau-Musik-Festival!
Frank Raudszus
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